Videodokumentation des Kurzfestival Gegensignal

Plantage und RZ Postdam, 16./17. September 2023

Visual von Andreas Siekmann

4

Vier Jahre nach seiner Stilllegung stand das stets umstrittene nachgebaute Glockenspiel der Garnisonkirche Potsdam im September 2023 im Zentrum eines Kurzfestivals, veranstaltet vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V. und dem Lernort Garnisonkirche. Das Glockenspiel wurde in einer öffentlichen Aufführung am Samstagabend, 16.9., gegen den Strich gespielt. Auf der Potsdamer Plantage, Standort des Glockenspiels unweit der Garnisonkirche, erklang nicht mehr das untertänige Lied „Üb immer treu und Redlichkeit“, sondern „Den Marsch Blasen“ des Komponisten Christian von Borries. Die Auftragskomposition brachte die verdrängten rechtslastigen und militärischen Botschaften des Glockenspiels akustisch wie szenografisch zum Vorschein, und gab zugleich den Opfern der einstigen preußisch-deutschen Militärgewalt eine Stimme. Gerahmt wurde die Aufführung von diskursiven Beiträgen: Eine akustisch-visuelle Lecture-Perfomance des Klangkünstlers Michael Schenk im Filmmuseum Potsdam zur Geschichte des Glockenspiels und ein anschließender Workshop im Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum zur Zukunft des Glockenspiels auf der Plantage.

Das Festival „Gegensignal“ zielte darauf, die in die Gesellschaft infiltrierten antidemokratischen, revisionistischen, nationalistischen und bellizistischen Botschaften des Iserlohner Glockenspielnachbaus performativ und symbolisch zu konterkarieren. Dadurch, dass das Glockenspiel gegen den Strich gespielt wird, soll seine einstige Botschaft „entweiht“ werden. Zugleich wird zur öffentlichen Diskussion zur Zukunft des Glockenspiels eingeladen.

Als wichtiger Teil der Veranstaltung haben vier namhafte Intellektuelle aus Polen, Ukraine, Russland und Namibia in Vortärgfen darauf zurückgeblickt, wie sich preußisch-deutsche Militärgewalt in die Geschichte Ihrer Länder eingeschrieben hat und wie sie die heutige deutsche Erinnerungskultur zu Preußen wahrnehmen. Es sprachen:
• Jan Tomasz Gross, Historiker und Soziologe, Polen/ Berlin, Prof. emeritus der Princeton University/USA
• Esther Muinjangue, Vizeministerin für Gesundheit und Soziale Dienste, ehemalige Vorsitzende der Ovaherero Genocide Foundation, Namibia
• Kateryna Mishchenko, Autorin und Verlegerin, Ukraine/Berlin
• Sergey Lebedev, Schriftsteller, Russland/Potsdam
• Sophie De Schaepdrijver Historikerin, State College Pennsylvania

Zum Hintergrund
Im April 1991 wurde in einem großen Festakt das Glockenspiel auf der Potsdamer Plantage eingeweiht, das von 1984 bis 1987 in der Bundeswehrkaserne in Iserlohn auf Initiative der Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel entstanden war. Zuvor waren einige revisionistische Inschriften zu Deutschland in den Grenzen von 1937 auf Betreiben der Stadt Potsdam durch Abschleifen entfernt worden. Andere problematische Inschriften, welche die Wehrmacht huldigten, aber verblieben. Mit dem Glockenspiel wurde über Jahrzehnte und erfolgreich für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam geworben. Der Kirchturm ist seit 2017 in Bau und wird 2024 eingeweiht

Zugleich war das Glockenspiel seit Anbeginn Gegenstand von Kritik und Protestaktionen. Aber erst in Folge eines offenen Briefes namhafter KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen wurde das Glockenspiel Anfang September 2019, das bis dahin regelmäßig u.a. die Melodie „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit„ spielte, abgestellt. Auch der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Garnisonkirche bezeichnete in Folge die Inschriften „aus heutiger Sicht historisch-politisch unzumutbar“. Im Juli 2021 erfolgte auf Anregung von Befürwortern des Glockenspiels die denkmalpflegerische Unterschutzstellung mit einer fragwürdigen Begründung. Damit war die von einigen vorgeschlagene Entfernung des Glockenspiels aus Iserlohn obsolet. Wie mit dem sillgelegten Glockenspiel in Zukunft umgegangenen wird, ist offen.

Das Programm des Festivals vom 16./17. September 2023

Intro: Klang-Geschichten zum Potsdamer Glockenspiel von Michael Schenk. Die 60-minütige multimediale Lecture-Performance als live-Hörspiel mit Bildern wird die Auseinandersetzung um das Iserlohner Glockenspiel in Potsdam seit 1991 Revue passieren lassen, und auf die Entstehung des Liedes „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“ und dessen Nutzungs- und Rezeptionsgeschichte verweisen. Anschließend Gespräch mit Lutz Boede, N.N. und dem Publikum.

DEN MARSCH BLASEN. Eine psychogeographische Situation am Glockenspiel auf der Plantage von Christian von Borries

Suchscheinwerfer, Fackelträger, Glockengeläut, Gefechtslärm. Auf der Plantage marschieren in unperfekten Gleichschritt kleine Musikgruppen unabhängig voneinander im Kreis, eine Gruppierung in entgegengesetzter Richtung. Sie sind in den Uniformen des Preußischen Heeres, der Wehrmacht und der Bundeswehr gekleidet, ein oder zwei Personen auch als Pfarrer verkleidet, und spielen unterschiedliche Medleys preußischer Märsche und einiger weniger evangelischer Choräle, nichts gleichzeitig und alles in unterschiedlichen Tempi, jede Gruppierung aber in sich stimmig.

Es entsteht eine Kakophonie, eine Referenz an den amerikanischen Komponisten Charles Ives, der vor über hundert Jahren mehrere Militärkapellen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen an einem Kirchturm vorbeilaufen zu lassen, auf dem er selbst stand.

Teil der Performance sind Kurzreden von exemplarischen Vertretern von preußisch- deutschen Kriegsgegnern aus Afrika, Ost und Westeuropa via Megaphon von einer Tribüne.

Eine Schauspielerin liest Passagen aus Originaltexten aus der Geschichte der Garnisonkirche, politische Statements, absurde Behauptungen. Die Atmosphäre ist offensichtlich alptraumhaft. Am Schluss kommen die MusikerInnen zusammen und begleiten einen Sänger zum Bachchoral “Es ist genug”, und zu Eislers viertem Antikriegslied “An die Nachgeborenen”. 

Symposion und Workshop
Teil 1: Exemplarische Nachkommen der Adressaten preussisch – deutscher Militärgewalt erhalten das Wort:
• Jan Tomasz Gross, Historiker und Soziologe, Princeton University
• Esther Muinjangue, ehemalige Vorsitz bei der Ovaherero Genocide Foundation, Vizeministerin für Gesundheit und Soziale Dienste Namibia
• Katja Mischenko, ukrainische Schriftstellerin , lebt in Berlin
• Sergey Lebedev, russischer Schriftsteller, lebt in Potsdam
Moderation: Philipp Oswalt


Teil 2: Publikumsgespräch mit dem Komponisten Christian von Borries zur der Uraufführung seines Werk „Den Marsch blasen“ vom Vortrag.

Teil 3: Wie soll die Stadt Potsdam als Eigentümerin des unter Denkmalschutz stehenden Glockenspiels auf der Plantage umgehen?
Fishbowl Diskussion mit Lutz Boede (Die Anderen), Beate Goreczko (Bürgerinitiative für ein Potsdam ohne Garnisonkirche), Saskia Hüneke (Bündnis 90- Die Grünen), Dominik Juhnke (ZZF), Wieland Niekisch (CDU), Annette Paul (Profilgemeinde Die Nächsten), Alexander D. Wietschel (Die Partei), Sarah Zalfen (SPD) und dem Publikum, moderiert von Laura Schenderlein (demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung)

Gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stadt Potsdam, veranstaltet vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V. und dem Lernort Garnisonkirche.in Kooperation mit dem Filmmuseum Potsdam und dem Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum.

Idee und Gesamtkonzeption: Philipp Oswalt

Online seit: 7. September 2023

Einen Kommentar verfassen:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert