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Die Predigt von Otto Dibelius am Tag von Potsdam
In dieser Fallstudie will ich darstellen, wie der Prediger Otto Dibelius meines Erachtens zum willigen theologischen Helfer[1] Adolf Hitlers in der Frühphase von dessen Machtergreifung[2] wurde. Diese These möchte ich in fünf Schritten erläutern, die sich wie fünf Akte eines Theaterstücks ausnehmen.
(1) Der äußere Rahmen von Ort und Zeit: Die politische Zielsetzung des „Tages von Potsdam“ – Nebenschauplatz Nikolaikirche
Den äußeren Rahmen gaben die Nationalsozialisten vor. Nach dem Brand des Reichstagsgebäude in Berlin beschloss das Kabinett Hitlers am 2. März, die erste Sitzung des neu zu wählenden Reichstages in der Garnisonkirche abzuhalten – passend zu der Strategie, sich im Wahlkampf auf die Tradition des Preußentums zu berufen und Hitler in eine Reihe mit Friedrich dem Großen, Bismarck und vor allem Hindenburg zu stellen. Der Wahlausgang war eine Enttäuschung. Nicht einmal 44 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die NSDAP, die damit die angestrebte eigene Mehrheit deutlich verfehlte. Deshalb „berief sich Hitler noch einmal emphatisch auf das nationale Bündnis und wiederholte in der Schaustellung des Tages von Potsdam am 21. März die nationalkonservativen Bekenntnisse der Anfangstage, die Bürgertum, Beamtenschaft und Armee so nachhaltig beeindruckt und von den terroristischen Machtergreifungsakten der nationalsozialistischen Funktionäre abgelenkt hatten.“[3]
Was Joseph Goebbels, seit dem 13. März Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, dem Volk einhämmerte, hatte Otto Dibelius schon vorher enthusiastisch begrüßt: „Der Gedanke, den neuen Reichstag in Potsdam, über dem Grab Friedrich des Großen, zu eröffnen, hat einen lauten Widerhall gefunden. 1848 die Paulskirche, 1919 das Theater in Weimar, 1933 die Garnisonkirche in Potsdam – solche Symbole prägen sich dem Gedächtnis eines Volkes tiefer ein als alle Reden. Sie stellen einen neuen Abschnitt der Geschichte in ein bestimmtes Zeichen.“[4]
Wie der Ort Potsdam war auch der Tag symbolträchtig aufgeladen. „Deutschland ist erwacht!“ hieß es in Goebbels „Aufruf an das deutsche Volk“, abgedruckt in allen Tageszeitungen am 21. März, dem Frühlingsanfang im Ablauf eines Jahres. Zudem war schon einmal ein Reichstag zu seiner ersten Sitzung an einem 21. März zusammengetreten: der Reichstag 1871, der erste im Deutschen Kaiserreich.
(2) Der Prediger Otto Dibelius
Ein erstes Ziel hatte Otto Dibelius schon erreicht, als er seine Predigt vorbereitete: er hatte die Pläne Hermann Kaplers, des juristischen Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats, und Georg Burgharts, des geistlichen Vizepräsidenten, eine feierliche Eröffnung des Reichstags in der Garnisonkirche zu verhindern, erfolgreich durchkreuzt.[5]
Ein zweites Ziel hatte Otto Dibelius auch erreicht: er selbst war damit beauftragt worden, die Predigt in dem evangelischen Gottesdienst zu halten, wenn auch auf dem Nebenschauplatz Nikolaikirche.[6]
Nun musste er nur noch eine Predigt entwerfen. In der Wahl des Predigttextes war er frei. Zwei Briefe hatten ihn erreicht, die – so unterschiedlich die Absender ansonsten waren – darin übereinstimmten, dass sie Dibelius einerseits zutrauten, an diesem Tag als Prediger die richtigen Worte zu finden, Dibelius andererseits auf die schon erfolgte und noch zu erwartende Zerstörung des Rechts im Lande hinwiesen.
Den einen Brief erhielt Dibelius von Karl Barth, seinem schärfsten theologischen und kirchlichen Kontrahenten. In der Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Kirche hatten die beiden sich nichts geschenkt. Doch nun hatte Barth ihm geschrieben, dass er über den „entscheidenden Inhalt“ des vertraulichen Rundschreibens, das Dibelius am 8. März den Pfarrern seines Sprengels und auch Barth zugeschickt hatte, „aufrichtig froh“ sei. Barth erwartete von Dibelius freilich, dass diesem „auch vor Augen stehen wird“, dass „für viele Millionen Menschen in Deutschland“ – „wenn in Potsdam die Glocken läuten und die Fahnen wehen“ – die Situation „eindeutig unter dem Aspekt von Gewaltherrschaft und Unterdrückung steht“.[7]
Den anderen Brief hatte ihm Theodor Heuss geschrieben. Mit Heuss und auch dessen Ehefrau Heuss-Knapp war Dibelius, seit diese vor bald 20 Jahren sich seiner Gemeinde in Berlin angeschlossen hatten, freundschaftlich verbunden. Politisch gehörten Heuss und Dibelius verschiedenen Parteien an. Heuss war von 1924 – 1928 Abgeordneter des Reichstages für die Deutsche Demokratische Partei und nach deren Umbenennung in Deutsche Staatspartei für diese von 1930 – 1933; Dibelius war Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Heuss berichtete Dibelius von einem Ausspruch eines „der heute leitenden Männer […], seine Aufgabe sei nicht Gerechtigkeit zu üben“. Heuss beendet seinen Brief mit den Sätzen: „Es würde mir seltsam vorkommen, wenn ich Ihnen Bibeltextvorschläge machen sollte. Es gibt einen prachtvollen Spruch bei Hosea 10,12.[8] Es müsste aber vor allem das Wort aus den Sprüchen über diese Tage gestellt werden: Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ „Es müsste in dieser Stunde ein starkes und vernehmbares Wort gesprochen werden“[9], hatte Heuss angemahnt. Ein solches Wort zu sprechen, hatte Dibelius sicher vor. Aber wen wollte er stärken, was stark machen an diesem Tag?
(3) Die Predigt
Ich versuche, die Predigt mit den Ohren eines – freilich kritischen – Ersthörers zu hören und die Gedanken zu formulieren, die dieser beim Hören hätte haben können. [10]
„Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Römer 8,31
Über diesen Text hat D. v. Dryander bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages am 4. August 1914 gepredigt. Es war ein Tag, an dem das deutsche Volk das Höchste erlebte, was eine Nation überhaupt erleben kann: einen Aufschwung des vaterländischen Gefühls, der alle mit sich fortriss;
Deshalb also hat Dibelius dieses Wort als Predigttext gewählt. Ich erinnere mich auch an diesen Tag zu Beginn des fürchterlichen Krieges. Dass alle von einem Aufschwung des vaterländischen Gefühls erfasst wurden, kann man ja nicht sagen. Aber es riss später alle mit sich fort in den Abgrund von Tod, Not und Elend. Will Dibelius jetzt daran erinnern, welchen Preis das deutsche Volk als Staat und Nation für diesen vaterländischen Rausch bezahlt hat?
„ein Aufflammen neuen Glaubens in Millionen Herzen; eine heiße Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, damit Deutschland lebe – ein Reich, ein Volk, ein Gott!„
Ja, die hat es wohl gegeben, die bereit waren, ihr eigenes Leben zu opfern. Aber noch mehr Leben wurden im Laufe des Krieges von denen geopfert, die keineswegs bereit waren, ihr eigenes Leben zu opfern, nur das der anderen.
„Der heutige Tag ist jenem Tag ähnlich, und ist doch wieder anders. … Noch sind wir nicht wieder ein einiges Volk.“
Das kann man daran sehen, wer heute nicht da ist, freiwillig und gezwungenermaßen: Sozialdemokraten und Kommunisten. Aber die will der deutschnationale Dibelius vielleicht auch gar nicht dabei haben, zumindest am heutigen Festtag nicht.
„Das weiß niemand so gut wie die Kirche, die das Evangelium allen Gliedern des Volkes zu bringen hat. Aber das Verlangen ist doch da bei Ungezählten, sich aus Klassenhass und Parteizerklüftung in das zu retten, was uns alle eint: dass wir Deutsche sind!„
Nur weil wir alle Deutsche sind, gibt es in Deutschland keine Klassen mehr? Nur noch eine deutsche Volksgemeinschaft, wie die Nazis jetzt immer sagen, dass sie die verwirklichen wollen?
„… Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Das Wort kommt aus dem Zentrum evangelischen Glaubens. … Gott ist nicht gegen die Menschen … Er ist nicht der ewig Fordernde, nie Zufriedengestellte, der mit den Menschen handelt Auge um Auge, Zahn um Zahn.“
Na, jetzt sag bloß nicht, dass die Juden unser Unglück sind. Du sollst ja selbst von Dir gesagt haben, Herr Dibelius, dass Du Antisemit bist. Ich verstehe ja nicht viel von Theologie, aber ich weiß doch, dass es in der Bibel auch die Zehn Gebote gibt.
„Gott spricht am Kreuz von Golgatha: Für Euch! …
Das ist die Wahrheit, die unsere Kirche bezeugt.
Diese Wahrheit aber wird nur verstanden, wenn man begreift, dass sie Gnade ist! …
…. Wir wollen wieder sein, wozu uns Gott geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein! …
Das ist es, was wir in dieser Stunde ersehnen: Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!“
Warum soll das ein Zeichen der Gnade Gottes sein, dass ich Deutscher bin, dass wir Deutsche sind? Gäbe es nach dem, was Deutschland im Krieg bzw. in der Welt angerichtet hat, nicht mehr Sinn, zu sagen: Gnade uns Gott!
„Mit Gott zu neuer Zukunft! Ein neuer Anfang steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgerufen hat, schonungslos vorzugehen, damit wieder Ordnung in Deutschland werde.„
Also darauf läuft das Ganze hinaus: hart, rücksichtslos und schonungslos kann man die Art schon nennen, in der die Nazis für Ordnung sorgen. In der Zeitung steht heute, dass in der Nähe von München, in Dachau, ein Konzentrationslager für 5.000 politische Gegner eingerichtet werden soll. Wenn das man für die nicht so ausgeht wie für die Bauern im Bauernkrieg! Und das findet der Dibelius in Ordnung?
„Aber wir wissen auch, dass Luther mit demselben Ernst die christliche Obrigkeit aufgerufen hat, ihr gottgewolltes Amt nicht zu verfälschen durch Rachsucht und Dünkel, dass er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gefordert hat, sobald die Ordnung wiederhergestellt war.
Das muss die doppelte Aufgabe der evangelischen Kirche auch in dieser Stunde sein. Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, gegen die vor allem, die mit ätzendem und gemeinem Wort die Ehe zerstören, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern – dann walte er seines Amtes in Gottes Namen!“
In Gottes Namen – ob das Gott so recht ist?
„Aber wir wären nicht wert, eine evangelische Kirche zu heißen, wenn wir nicht mit demselben Freimut, mit dem Luther es getan hat, hinzufügen wollten: staatliches Amt darf sich nicht mit persönlicher Willkür vermengen!“
Da hat er aber mal recht, der Luther!
„Ist die Ordnung hergestellt, so müssen Gerechtigkeit und Liebe wieder walten, damit jeder, der ehrlichen Willens ist, seines Volkes froh sein kann. …“
Das kann dauern. Und in der Zwischenzeit? Wenn die man sich nicht täuschen, die sagen: Es wird schon nicht so schlimm kommen; wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wenn die man sich nicht täuschen, die sich damit beruhigen, dass da ja auch noch der Hindenburg ist, der im Notfall schon für Recht und Ordnung sorgen wird.
„… Das ist heute unser Gebet: dass Gottes Gnadenhand über dem Bau des Deutschen Reiches die Kuppel wölbe, die einem deutschen, einem geheiligten, einem freien Volk den Blick für immer nach oben zieht. Deutschland wieder und für immer: ein Reich, ein Volk, ein Gott! …“
Also, das ist mir nun doch etwas zu viel Pathos und Symbolik.
(4) Die Predigt in der Rückschau des Predigers
In seinen Lebenserinnerungen „Ein Christ ist immer im Dienst“ von 1961 blickt Dibelius zurück auf seinen Anteil an dem Ablauf des Tages von Potsdam. Er habe verhindert, dass der neu gewählte Reichstag – wie zunächst geplant – seine erste Sitzung in der Garnisonkirche abgehalten hätte. Dann schildert er den Gottesdienst in der Nikolaikirche: „Endlich kam Hindenburg ... Der Jubel der Menschen tat ihm sichtlich wohl. Als er mich begrüßte, sagte er mit seiner tiefen Stimme: `Gott sei Dank, dass wir endlich wieder so weit sind!´ Ich hielt die Predigt. An entscheidender Stelle sagte ich: `Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt … Das ist unser heißes Anliegen, dass eine neue deutsche Zukunft heraufgeführt werde von Männern, die aus Dank für Gottes Gnade ihr Leben heiligen in Zucht und in Liebe und dass der Geist solcher Männer dann das ganze Volk durchdringe! Herr, lass uns wieder werden, was unsere Väter waren: durch Gottes Gnade ein geheiligtes Volk!´.[11] Die Nationalsozialisten sahen mich feindselig an. Sie haben mir diese Worte nie vergessen.“[12]
Dibelius hat sich, soweit ich sehe, nie kritisch zu seiner Mitwirkung am Tag von Potsdam geäußert.[13] Dibelius wird kaum sich selbst gemeint haben, als er 1960, noch immer Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg, in seinem Bericht vor der Synode ausführte: „Ich bitte Gott, dass er die Kirche immer wieder frei mache von der Versuchung, den Geist der Agitation und der Propaganda, der vor ihrer Tür sein Wesen treibt, in ihre Mitte einzulassen.“[14]
(5) Noch einmal Otto Dibelius am Tag von Potsdam – eine späte, notwendige Kontroverse
Dibelius war seit fast 23 Jahren tot[15], als ein Satz, fast eine Nebenbemerkung eine wochenlange Kontroverse auslöste. Aurel von Jüchen bezog sich in einem Leserbrief an das Berliner Sonntagsblatt, erschienen am 24. September 1989, auf einen drei Wochen zuvor in derselben Zeitung erschienenen Kommentar zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Als ein „Dolmetscher zwischen den Generationen“ wolle er, ein 87jähriger Zeitzeuge, eine zu kurz gekommene Frage beantworten, die Frage nämlich, wie es kam, „dass das deutsche Volk auf den Meister der Lüge und der betrügerischen Propaganda hereinfallen konnte, […] welche Glaubenshaltung aus Hitler `den Führer´ machen konnte“.[16] In diesem Zusammenhang, den von Jüchen historisch breit darlegte, steht der Satz „Unter Berufung auf Luthers Haltung im Bauernkrieg segnete er (gemeint ist Dibelius in seiner Predigt am Tag von Potsdam) auch alle Gewalttaten des Nationalsozialismus ab.“ Wulf Thiel, der Dibelius aus eigenem Erleben kannte, reagierte umgehend: „So war er nicht“. Dann nahm die Kontroverse Fahrt auf.
Zweimal meldete sich Pfarrer i.R. Johannes Müller, Jg. 1909, zu Wort, musste sich den Vorwurf anhören, er zitiere aus einer „SED-Quelle“. Ulrich Peter meldete sich zu Wort: „Vorab eine Klarstellung: Dibelius war kein Nazi und hat im Kirchenkampf eine wichtige Rolle gespielt. Das ändert an der Tatsache, dass Leute wie er die Machtübernahme der Nazis ermöglicht haben und in der ersten Phase der NS-Diktatur diese ideologisch abgesichert und legitimiert haben, allerdings kein Jota.“
Altbischof Kurt Scharf zeichnete ein versöhnliches Bild von Otto Dibelius: Zwar Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, habe Dibelius „als Mann der Kirche, als Prediger und Seelsorger“ den Forderungen der Nationalsozialisten „mehr als einmal öffentlich widersprochen“, in den Bruderräten der Bekennenden Kirche „exponiert“ mitgearbeitet und sei im neuen leitenden Amt nach 1945 „außerordentlich fair (gewesen) gegen solche, die ihn kritisierten oder ihm widersprachen. Er mühte sich, nach bestem Wissen und Gewissen der Heiligen Schrift gemäß zu leben. So war er! So habe ich ihn erlebt!“
Das Berliner Sonntagsblatt beendete schließlich die Debatte nach zehn Wochen, indem sie Aurel von Jüchen, der die Debatte ausgelöst hatte, noch einmal das Wort gab. Von Jüchen, der sich zwischendurch dagegen ausgesprochen hatte, dass die Debatte eine „personalistische Wende“ genommen hatte, bekräftigte noch einmal, dass die Schuld der Kirche „in der Schieläugigkeit einer Theologie und einer Verkündigung“ bestanden habe, „die mit einem Auge auf Jesus Christus als den einzigen Herrn der Kirche sah, und mit dem anderen auf den starken Staat, die traditionssichernde Obrigkeit und die Obrigkeitshörigkeit ihrer Untertanen.“ Deshalb: „Macht Schluss mit dem […] `Dibelianismus´“.
Fazit
Dass das Berliner Sonntagsblatt Anfang Dezember 1989 die Debatte in der eigenen Zeitung nicht fortführen wollte, kann man verstehen. Damals verdrängten Fragen nach der Zukunft die Frage, wie es in der Vergangenheit wirklich gewesen ist. Das kann man freilich auch bedauern. Erzeugte der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht auch einen Rausch, durch den Fragen der Gerechtigkeit und der Demokratie in den Hintergrund gedrängt wurden? Und für wen hatten die Kirchen in diesem Prozess ihre Stimme zu erheben? Dass z. B. der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 mit einem ökumenischen Gottesdienst begonnen wurde, wird man nicht selbstverständlich finden, wenn man genau hinsieht.[17]
Was die historische Beurteilung angeht, wird man zumindest dem milden Urteil von Klaus Scholder zustimmen müssen: Man wird „schwerlich an dem Urteil vorbeikommen, dass auch Dibelius dem illusionären Glanz des Tages von Potsdam wenigstens teilweise erlegen ist. Zwar waren die kritischen Untertöne in der Predigt nicht zu überhören. Aber sie blieben Untertöne, die überlagert wurden vom pathetischen Oberton preußisch-protestantischer Hoffnungen“. Mit der Wahl des Predigttextes „bestätigte Dibelius, dass auch er an die Potsdamer Täuschung glaubte; und zugleich übernahm er mit seiner Predigt ungewollt eine wichtige Rolle dabei.“[18]
Einfach macht es Dibelius den Nachgeborenen nicht. Er war kein Nazi und kein Opportunist. Er ging aus Überzeugung „in die Irre“.[19] Er war kein bornierter Nationalist, sondern früh ökumenisch ausgerichtet. Nachdem er an der Weltkirchenkonferenz 1925 in Stockholm teilgenommen hatte, war für ihn Nathan Söderblom, der Erzbischof von Uppsala und Wegbereiter der ökumenischen Bewegung, über dessen Tod hinaus ein Vorbild. Es bleibt eine spannende Frage, was Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und Einstellungen zeitweilig zusammenführte oder getrennte Wege gehen ließ.[20]
Diese Predigt zeigt schließlich, wie eine versäumte Einsicht der eigenen Schuld und eine unterlassene Umkehr anfällig machen, die Schuld, Gott in den Dienst eigenmächtig gewählter Ziele zu stellen. zu wiederholen.[21] Nicht zuletzt der unbedachte Kontext sorgte dafür, dass der Predigttext beim Hörer in der Fassung Ist Gott für uns Deutsche, wer mag wider Adolf Hitler sein? ankommen konnte.
Der Text erschien zugleich in: Jahrbuch des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie 2023: „Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik“
Johannes Weissinger, Jg. 1948, Pfarrer i.R., Dortmund. Mitarbeit im Ökumenischen Institut für Friedenstheologie, Mitglied der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden AG Westfalen
[1] Der Anklang an den Titel des Buches von Jonathan Goldhagen Hitlers willige Helfer ist beabsichtigt.
[2] Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Es ist irreführend, diesen Tag als Tag der Machtergreifung zu bezeichnen. Es handelte sich um eine Machtübergabe. Die Macht ergriffen hat Hitler in den folgenden Wochen und Monaten. Einen ersten Abschluss dieser Machtergreifung bildet das sogenannte Ermächtigungsgesetz, das der Reichstag am 23. März 1933 beschlossen hat.
[3] Bracher: Die deutsche Diktatur, 215 [Hervorhebung von J.W].
[4] Sonntagsspiegel der Tageszeitung Die Tat, 5. März 1933, zitiert nach Grünzig: Für Deutschtum und Vaterland,154. Zu beachten ist, dass Dibelius für die Eröffnung des Reichstags in der Garnisonkirche war. Eine etwaige erste Sitzung des Reichstags an diesem Ort lehnte Dibelius strikt ab.
[5] Vgl. Grünzig: Für Deutschtum und Vaterland, 150f. Dibelius ging dabei eigenmächtig vor. Er war – anders als er es 1961 behauptete – für die Garnisonkirche nicht zuständig. Vgl. ebd., 16, 29, 149.
[6] Vgl. Grünzig: Für Deutschtum und Vaterland,159: Ministerialrat Kaisenberg aus dem Reichsinnenministerium, das mit der Planung des 21. März beauftragt war, hatte Georg Burghart, den Geistlichen Vizepräsidenten des preußischen Oberkirchenrats, eingeplant, doch der Gemeindekirchenrat der St. Nikolaikirche hatte sich für Dibelius ausgesprochen.
[7] Alle Zitate nach Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich I, 296.
[8]„Säet Gerechtigkeit und erntet nach dem Maße der Liebe!“
[9] Alle Zitate nach Hamm-Brücher: Zum Demokratieverständnis von Theodor Heuß, 53f.
[10] Die Zitate aus der Predigt (vgl. Dibelius: Festpredigt) sind fortlaufend wiedergegeben, die Hervorhebung durch Kursivschrift im Original. Um der besseren Lesbarkeit willen werden die Anführungszeichen nur zu Anfang und zum Ende gesetzt.
[11] Dibelius: Ein Christ ist immer im Dienst, 171f. In der Auslassung stehen die beiden Absätze, die im vorigen Kapitel zitiert wurden, fortgeführt in dem Satz: „Die beiden Reiche, die Luther so sorgfältig auseinander hielt, das Reich der weltlichen Gewalt und das göttliche Reich der Gnade, werden eins in der Person des Christen.“
[12] Es gab freilich eine Ausnahme: „Nur Göring schüttelte mir die Hand, als wir den Reichspräsidenten hinausbegleiteten: `Das war´, sagte er, `die beste Predigt, die ich in meinem Leben gehört habe!´“ Dieses Lob bagatellisiert Dibelius umgehend: „Ich unterdrückte die naheliegende Frage, wie viele Predigten der Herr Ministerpräsident in seinem Leben gehört habe.“ ebd., 172f.
In dieser Situation wird freilich auch Dibelius´ ganze Aufmerksamkeit Hindenburg gegolten haben. Vgl. den weiteren Bericht: „(Hitlers) Rede (in der Garnisonkirche) war eine Enttäuschung. Es war nichts darin, was ein Herz hätte höher schlagen lassen. Hindenburg antworte würdig, aber ohne etwas Markantes zu sagen.“ ebd., 173.
[13] Im Gegenteil. Nach dem Bau der Mauer in Berlin 1961 hält Dibelius vom 28. August bis 1. September in der Kirche am Südstern fünf „Reden an eine gespaltene Stadt“. In der ersten Rede verweist er zur Begründung dafür, dass die Kirche ein Angebot der DDR, den Deutschen Evangelischen Kirchentag wie 1954 auch 1961 in Leipzig abzuhalten, nicht angenommen habe, darauf, dass die Kirche schon einmal einem totalen Staat nicht zu Diensten war, nämlich als er, Dibelius, 1933 zu einem entsprechenden Befehl Hitlers Nein sagte: „Zu einer Reichstagssitzung geben wir eine Kirche nicht her!“ Dibelius: Reden an eine gespaltene Stadt, 5.
[14] Dibelius: Selbstzeugnisse, 345. Dabei hätte Dibelius allen Grund zur Selbstkritik gehabt. Er hatte in seiner Predigt fast wörtlich wiederholt, was Goebbels in seinem „Aufruf an das deutsche Volk“ am 21. März in allen Zeitungen hatte abdrucken lassen: die innere Zerrissenheit des deutschen Volkes werde„von nun an endgültig“ beendigt sein; „über Klassenunterschiede und konfessionellen Zwiespalt hinweg“ reichten sich „alle Stämme, Stände und Bekenntnisse in den vielen Millionen Menschen, die hinter der Regierung der nationalen Revolution stehen, die Hand“. Der Unterschied: Was Goebbels als Tatsache hinstellte, war für Dibelius eine Hoffnung.
[15] Otto Dibelius starb am 31. Januar 1967 in Berlin.
[16]Dokumentation der LeserInnenbriefe in Asta (Hg.): Deutschnationales Christentum, 5. Dort auch alle folgenden Zitate auf den Seiten 6-16.
[17] Vgl. Schellong, Dieter: Ein Skandal auch über den 3. Oktober hinaus.
[18] Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich I, 296 Zu der historischen Einordnung der Inszenierung in Potsdam insgesamt vgl. Grünzig: Für Deutschtum und Vaterland, 178f: „Der `Tag von Potsdam´ markierte einen entscheidenden Schritt zur absoluten Macht der NSDAP. Nach dem Staatsakt kam es zu einer massenhaften Anbiederung des deutschnationalen Lagers an die NSDAP. […] Ebenso wichtig war die Wirkung […] auf den Reichspräsidenten. Er unterstützte Hitler nach dem 21. März 1933 fast bedingungslos […] Am wichtigsten aber war, dass Hitler nach dem Händedruck in der Garnisonkirche als der legitime Erbe Hindenburgs galt. Daher regte sich auch kaum Widerstand, als Hitler nach dessen Tod am 2. August 1934 die Befugnisse des Reichspräsidenten übernahm…“
[19] Vgl. das sog. Darmstädter „Wort des Bruderrates der EKiD zum politischen Weg unseres Volkes“ vom 8. August 1947. In: KUPISCH 1971, 57-59
[20] Vgl. die Lebenswege von Friedrich Siegmund-Schultze, Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller u. a.
[21] Vgl. die These 6 der Theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnissynode 1934. In: KUPISCH 1965, 277
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