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Ende Juni 1900 wurde das Ostasiatische Reiter-Regiment in Potsdam als Teil des 19.000 Mann umfassenden Ostasiatischen Expeditionskorps des Deutschen Reichs zur Niederschlagung des Boxeraufstands aufgestellt. Der Garnisonpfarrer und Hofprediger der Garnisonkirche Potsdam Johannes Kessler hielt zum Abschied eine martialische Predigt, in der er für den „tausendjährigen Kampf zwischen Morgen- und Abendland“ forderte, dass es keinen Friede geben dürfe, „bis das heilige Evangelium der Glaube aller Völker ist.“ Einen Tag später hielt Kaiser-Wilhelm II. bei der Einschiffung der Truppen nach China seine berüchtigte Hunnenrede.
Potsdams Scheidegruß dem ostasiatischen Reiter-Regiment
Bericht des Potsdamer Intelligenz-Blatts, Nr. 173, 26.7.1900, 1. Beilage, S.1
Nun ziehen sie hinaus, unsere wackeren Söhne des Vaterlandes, zu rächen die unerhörte Schmach, die im fernen Osten unserem Deutschthum von frechen Bubenhänden zugefügt wurde, und die Gebete nicht nur der Bürgerschaft Potsdams, nein Alldeutschlands und der ganzen zivilisierten Welt begleiten die muthige Schaar auf ihrer Kriegsfahrt, so Gott will, und das hoffen wir als Deutsche, auf ihrem „Siegeszuge“.
Die letzten Tage in Potsdams Mauern werden den in die unbekannte Weite einem ungewissen Schicksal entgegenziehenden Truppen sicher unvergeßlich bleiben, ist unser Appell, wenn es eines solchen überhaupt bedurft hätte, es der muthigen Freiwilligenschaar in der kurzen Zeit ihres hiesigen Verweilens so heimisch wie möglich zu machen, doch nicht ungehört verhallt. Im Gegentheil hat man sich darin allerseits zu überbieten versucht.
Zu schnell nur ist die Scheidestunde da, und wenn sie auch ihre Schatten, je näher sie kam, immer deutlicher vor sich warf. Als gewissenhafte Chronisten haben wir nicht verabsäumt, die rührenden und feierlichen Abschiedsmomente in all‘ ihren Stadien zu registriren. Seit gestern trat jedoch mehr und mehr das Hasten in Erscheinung, welches jeder größeren, und nun gar einer solchen Reise ins Ungewisse vorauszugehen pflegt, wo es vielleicht heißt, Abschiednehmen auf Nimmerwiedersehen. Die letzten Grüße galt es, sei es brieflich, sei es von Mund zu Mund, auszutauschen, die letzten Besuche und Einkäufe zu erledigen und endlich – zu packen.
Heute früh sah man schwer beladene Krümperwagen zum Güterbahnhofe hinausbefördern, auf welchen in Theersäcken und festen Kisten alle die Ausrüstungsgegenstände der verschiedensten Art wohl verpackt waren.
Natürlich hat es sich die zweite Residenz- und alte Soldatenstadt Potsdam nicht nehmen lassen, ein würdiges Festgewand anzulegen, ein Festgewand, wie es in gleicher Pracht und liebevoller Gründlichkeit bisher wohl nicht gesehen wurde. Wohl marschierte Potsdam aus nationalen und sonstigen festlichen Anlässen in Betreff würdiger Dekoration immer an der Spitze aller Städte mit monarchisch gesinnter Bevölkerung, wohl fiel es hier nimmer schwer, die Wogen der Begeisterung zu heller Flamme zu entfachen.
Diesmal jedoch hat der durch das „Potsdamer Intelligenz-Blatt“ verbreitete Aufruf der städtischen Behörden dennoch alles bisher Dagewesene übertroffen. Nicht nur die Hauptstraßen bilden einen dichten Wald von Fahnen, nicht nur von allen Häusern, privaten wie öffentlichen, auch den Kirchen, flattern die Fahnen lustig im Winde, um den scheidenden Kriegern heute ein „Lebewohl!“ und „Auf Wiedersehen!“ zuzurufen, nein auch in den entlegenen Nebenstraßen hat der durch die Ereignisse unerhörter Art wach gerufene Enthusiasmus Wunderdinge gezeitigt. Aus den Fenstern der meisten Miethswohnungen sieht man Fähnchen, die wohl noch vom vorjährigen Schulfest vorhanden waren, herausgesteckt, neben überreich geschmückten Häusern, deren ganze Fronten mit Fahnengruppen und Wappen bedeckt sind. Balcons, Firmenschilder, Schaufenster, Ladentüren, Restaurants sind von Fahnen, Flaggen und Guirlanden gesäumt, die Fahnenstangen zum Theil mit grünen Sträußen bekrönt. Wir sahen ein Haus, welches von unten bis zu luftiger Höh‘ hinauf mit unzähligen bunten Wimpeln und Lampions übersät war, herabgelassene Marquisen wiederum, die ringsum mit Fähnchen besteckt waren, kurz überall ein enthusiastisches Bestreben, die Antheilnahme zu beweisen an dem heutigen bedeutsamen Gedenk- und Ehrentage unserer herausziehenden Braven. Auf der langen Brücke, die mit ihrem reichen Statuen- und Trophäenschmuck einer bedeutungsvollen via triumphales gleicht, wehen zu beiden Seiten von hohen Flaggenmasten die deutsche und die preußische Fahne den Scheidenden den letzten Gruß vom blauen Havelstrande zu. Sie wollen sagen: „Fahrt wohl, seid tapfer und bieder und zeigt Euch Eurer Väter würdig, kämpft – Mit Gott für Kaiser und Reich – und kehrt ruhmbedeckt heim zu Eurem Kaiser und zu Euren Lieben, des Lorbeers würdig, der des kühnen Siegers in der Heimath als ehrenvoller Lohn winkt!
Programmäßig, wie von uns gestern bereits veröffentlicht, vollzog sich heute Mittag der Aufmarsch der Deputationen sämmtlicher hiesigen Truppenkörper. Dann langte unter großem Zurufen der dicht herbeigeströmten Bürgerschaft das „Ostasiatische Reiter-Regiment“ an. Als alle Truppen in gehobener Stimmung Aufstellung genommen hatten, erscholl der alte wohlbekannte Klang der großen Glocken unserer Garnisonkirche und in feierlicher Stimmung, jeder sich bewußt des Augenblicks betraten die jungen Krieger das mächtige Gotteshaus. Draußen harrte eine viel hundertköpfige Menge, die festlich geschmückt herbeigeeilt war, um den scheidenden Reitersleuten Lebewohl! zu sagen. Kein Auge blieb trocken, als die Schaar der Muthigen in langen Reihen in das Gotteshaus einzog, um hier vom Hof- und Garnisonpfarrer Kessler die letzten seelsorgerischen Worte auf heimathlichem Boden zu vernehmen. Der Kirchenchor der Garnisonkirche intonirte: „Sei getreu bis in den Tod“ und hoch ergriffen von den Worten des Geistlichen vernahm die Gemeinde die stärkenden und tröstenden und doch wiederum so anfreuernden Worte des Geistlichen.
Hofprediger Kessler verstand es durch seine tiefergreifenden Worte die Herzen der jungen Krieger bis in das Innerste zu rühren. Er wählte zum Ausgang seiner Rede die Worte aus dem 16. Capitel des Chorinther-Briefes: „Wachet im Haus, seid männlich und stark,“ und anknüpfend an die heiligen Worte führte der Geistliche aus: Schon steht der Extrazug auf den Schienen bereit, der Euch zum heimischen Hafen hinausführen, schon steht euer Schiff beflaggt auf der Rhede, das Euch in die brausende Meerfluth hinaustragen soll. Noch zwei Stunden dauert es, bis Ihr von dieser Stadt Abschied nehmet, noch einen Tag, daß Ihr zum letzten Male die heimischen Gestade sehet und noch ein paar Wochen, bis Ihr in den tosenden Kampf hinauszieht. Und da frage ich Euch: Seid Ihr bereit zum Abschied? Seid Ihr bereit zur Reise? Seid Ihr bereit zum Kampfe und bereit, gegebenenfalls auch zum Sterben? Für Abschied, Kampf und Tod braucht Ihr eine Parole, eine große starke Parole, die das junge Herz frisch aufsprühen läßt in Muth und Kraft, – eine Parole, die euch den Tod für das Vaterland erleichtert und versüßt! – Und da giebt es kein schöneres Wort, als jenes, was hier geschrieben steht und welches unsere Erlauchte Kaiserin selbst hier eingetragen hat: „Wachet im Hause, seid männlich und stark!“ Es ist eine tapfere Parole, ein Wort für tapfere Männer! – Unser Kaiser hat euch gerufen, – „der König rief und Alle, Alle kamen!“ Die Chinesen haben das Völkerrecht gebrochen, unsere Vertreter meuchlerisch ermordet, tausende massacrirt, das Blut der Aermsten schreit nach Genugthuung, Ihr sollt der starke Arm sein, der das Gericht über die Mörder verhängt. Ihr sollt die gepanzerte Faust sein, die hereinfährt unter die feigen Meuchelmörder. Der tausendjährige Kampf zwischen Morgen- und Abendland ist wieder angebrochen, es gilt nicht nur die Glieder der Cultur, sondern auch den europäischen Handel, die Fahne, die über unsere Kolonien schwebt, zu schützen! Völker Europas, wahret die heiligsten Güter! Ihr seid aber auch die Streiter Gottes, die nicht ruhen dürfen, bis sein heiliges Wort für alle Völker gilt! Nicht Friede darf werden auf Erden, bis das heilige Evangelium der Glaube aller Völker ist. Ihr seid die Pioniere des gekreuzigten Heilands! Darum Hand an das Schwert! – Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß es hinein geht in ernste Tage. Und wenn Ihr morgen unter dem Auge des Kaisers Abschied nehmet, wenn das Schiff in die See stößt, – wie leicht sinkt da der Muth. Und wenn die schwarz-rot-weiße Fahne an dem fernen Gestade zum Willkommen weht, wenn die Brüder und Kameraden, die drüben schon ihre Pflicht thun, Euch begrüßen, wenn die Trompete zum Streite bläst, wenn die Kugeln sausen, dann wird auch das Herz des Tapfersten schwach, dann ist nur das Eine, was Euch Kraft und Muth verleiht: Der Glaube an den großen Allmächtigen Gott. Der Glaube giebt Euch Freudigkeit zum Kämpfen, er ruft Euch zu: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!“ Seid männlich und stark, wenn die heimische Küste entschwindet! Schauet vorwärts auf den Steuermann, der Euch hoffentlich zu dem Siege führen wird. Seid männlich und stark, wenn Ihr drüben das Lager bezieht! Das Auge Europas schaut auf euch, Ihr seid die Söhne jener Väter, die einst auf blutigen Schlachtfeldern die deutsche Einheit erkämpft. Es schaut Euer Kaiser auf Euch! Es schaut auf Euch der heilige Gott. Seid männlich und stark, wenn es hinein geht in die Schlacht. Seid männlich und stark, wenn die Kugeln um Euch sausen, und seid männlich und stark, wenn der Tod einst naht, denn Ihr werdet dann die Krone des Lebens empfangen. Die Bilder von Friedrich Wilhelm I., der Preußens Heer geschaffen, und von Friedrich dem Großen, der es zum Siege führte, blicken auf Euch hernieder. Alle die Fahnen ringsherum, die deutsche Krieger blutend und sterbend sahen, rufen Euch zu: Seid männlich und stark. Als vorhin die Glocken läuteten, dachte ich an die Glocken der Schlachtfelder von Metz, die gegossen sind aus den eroberten Geschützen. Auf der ersten steht: „Eine feste Burg ist unser Gott“. Gott lebt noch, Gott regiert noch, Gott ist noch unser Zutrauen! – Auf der zweiten steht der Spruch: „Durch Gott zum Sieg!“ Auf der dritten: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern!“ Aus Sachsen, aus Bayern, aus allen deutschen Staaten, seid Ihr hergekommen, für Kaiser und Vaterland zu kämpfen. Ich stehe im Geiste an den Ufern der Nordsee, plötzlich tauchen die bunten Wimpeln der Schiffe auf, die Menge ruft: „Sie kommen, sie kommen!“ Und dann wieder sehe ich die Hauptstadt geschmückt, der Kaiser selbst zieht mit seinen Truppen den Heimkehrenden entgegen, um ihnen Lorbeer und Ehre für den Sieg zu spenden. Ich sehe das stille Dorf, den alten Vater, die greisen Mütter eilen jauchzend ihren Söhnen entgegen und schließen sie in ihre Arme. Durch Gott zum Sieg! – Ich sehe im Geiste eine andere Zeit, droben im Himmel empfängt der Herrscher aller Heerschaaren die Todesmuthigen, die als Sieger einziehen in den ewigen Frieden. Und über allen diesen Bildern steht das Wort, das ich euch zurufe: Geht mit Gott, kämpft mit Gott, siegt mit Gott! Amen! –
Der feierlichen Handlung schloß sich das gemeinschaftliche Abendmahl an, das den Offizieren und Mannschaften gespendet wurde und so getragen von der Ehrfurcht vor Gott dem Allmächtigen, in dessen Schutz wir alle stehen, verließen die jungen Krieger die alte Garnisonkirche, deren fahnengeschmückte Wände wieder mal stumme aber beredsame Zeugen einer Handlung waren, wie wir sie seit einem Mannesalter nicht erlebt. Nachdem das Regiment sich vor der Kirche wieder formirt, trat es den kurzen Marsch nach dem Bahnhofe an, wo es um 4:10 Uhr seinem weiteren Schicksale entgegen eilt!
Lebt wohl ihr Brüder! Bewahret deutsche Treue und deutsche Sitte und zeigt, was deutsche Manneszucht und eine deutsche Faust, wenn sie zum Schlag herausgefordert ist, zu leisten vermag!
Zu Johannes Kessler siehe auch den Aufsatz von Thomas auf dieser Web-Site: Link
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