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Otto Dibelius im Jahr 1933: ein zögerlicher preußischer Kirchenführer zwischen Weimar und Hitler
Am 14. September 2021 hielt Manfred Gailus den untenstehenden Vortrag zum Thema im Potsdamer Forum für Kunst und Geschichte, dem sich eine Diskussion mit Martin Vogel (theologischer Vorstand der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Beauftragter der EKBO bei den Ländern Berlin und Brandenburg) und dem Publikum, moderiert von Hermann Düringer, anschloss.
Otto Dibelius war kein Nazi – aber er war auch nicht ein mutiger Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der in der Kirchenopposition der Jahre 1933 bis 1945 stets an der vordersten Front kämpfte. Der protestantische Kirchenführer Dibelius hatte in seiner langen Laufbahn viele Ämter und Positionen: er war mächtiger preußischer Generalsuperintendent der Kurmark, zeitweilig Mitglied im preußischen Bruderrat der Bekennenden Kirche, seit 1945 gut zwei Jahrzehnte Bischof der Landeskirche Berlin-Brandenburg, schließlich von 1949 bis 1961 Ratsvorsitzender der EKD – kurz, er war eine herausragende Persönlichkeit des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. Und man übertreibt sicher nicht, wenn man ihn eine kirchliche Jahrhundertfigur nennt. Im Folgenden soll es allein um die Rolle gehen, die Dibelius in den Umbrüchen des politisch und kirchenhistorisch extrem ereignisreichen Jahres 1933 spielte. Seine Performance auf der politischen Bühne jenes geschichtlich fatalen Umbruchjahrs war nicht eindeutig, sie war vielmehr mehrdeutig, facettenreich, mit überraschenden Wendungen, Wandlungen und Wechseln.[1]
Wir kennen nicht genau Dibelius’ unmittelbare Wahrnehmung jenes historischen Augenblicks am 30. Januar 1933, als der kirchlich fromme Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP Adolf Hitler zum Reichskanzler berief. Das ließe sich allein aus zeitnahen Tagebuchaufzeichnungen oder Briefen jener Tage erkennen, die bisher nicht bekannt sind. Aber tiefe Genugtuung und vielleicht auch verhaltene Freude über das Ende der ungeliebten „Gottlosenrepublik“ von Weimar werden seine Gedanken in den ersten Tagen und Wochen des Regierungsantritts des „Kabinetts der nationalen Konzentration“ gewiss bestimmt haben. Es sei daran erinnert, dass in der neuen Regierung, jenem elfköpfigen Kabinett der politischen Rechtskräfte, nicht die NSDAP, sondern die Konservativen um Vizekanzler Franz von Papen und Alfred Hugenberg, dem Chef der DNVP, eine Mehrheit hatten. Und Dibelius gehörte bekanntlich der DNVP an, jener durch Hugenberg seit 1928 massiv radikalisierten Partei, die in der Endphase der Weimarer Republik mehr und mehr rechtsextreme Züge annahm und deren scharfer Antisemitismus demjenigen der Hitlerpartei kaum nachstand.[2]
Jetzt regieren wir auch mit – so oder ähnlich wird sich das aktuelle Zeitempfinden bei Dibelius und seinen Kollegen in der Leitung der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union während der ersten Wochen nach dem 30. Januar überschreiben lassen. Die Kommunistische Partei wurde als erste nach der Machtübernahme scharf verfolgt, ihre Führer inhaftiert; auch die Sozialdemokratische Partei sah sich in die Illegalität gedrängt; die Verbände und Vereine der Freidenkerbewegung wurden ebenfalls verboten, ihre Büros besetzt, Vereinsvermögen beschlagnahmt. Das war die Zerschlagung der „Gottlosenbewegung“, die Dibelius und seine kirchlichen Mitstreiter in den Jahren der Weimarer Republik als so bedrohlich empfanden und gegen die sie so heftig gekämpft hatten.
Auch hörten die Kirchenaustritte nun plötzlich auf. In Berlin waren es zuletzt Zehntausende von Evangelischen gewesen, die jährlich die Kirche verließen. Viele unter diesen Dissidenten begehrten nun, in der neuen Zeit, wieder den Kircheneintritt. Denn wer im „Dritten Reich“ konfessionslos war, machte sich sofort verdächtig. Symptomatisch war folgende Episode: In Berlin besetzten zwei NS-Pfarrer der Deutschen Christen mit einem Trupp SA die Freidenkerzentrale und eröffneten darin ein Büro zum Kirchenwiedereintritt. In den modernen Reformschulen aus der Republikzeit wurden große Teile der Kollegien entlassen, besonders traf es jüdische Lehrer. Auch wurde an diesen so genannten weltlichen Schulen umgehend der Religionsunterricht wieder eingeführt. Nichtarische Juristen an den Gerichten wurden gewaltsam aus ihren Ämtern vertrieben, darunter der Magdeburger Landgerichtsdirektor Friedrich Weißler, ein evangelischer Christ, durch Gewaltaktionen von SA und Stahlhelm im Februar und März 1933. Alles dies waren Zielsetzungen und Maßnahmen, für die auch der politisch aktive Nationalprotestantismus, zu dem Dibelius als einflussreiche Stimme gehörte, seit vielen Jahren gekämpft hatte. Kurz: da war doch alles in allem viel Grund zu kirchlicher Freude über eine tief greifende Zeitenkehre im Spiel, über den Bruch mit Republik, Demokratie, Parlamentarismus, Parteienherrschaft – eine Freude, die Dibelius mit vielen Spitzenmännern der preußischen Landeskirche, mit vielen Pfarrern und großen Teilen des evangelischen Kirchenvolks teilte.[3]
Die Osterbotschaft des Evangelischen Oberkirchenrats, also der preußischen Kirchenleitung, vom 16. April bestätigte jene „Machtergreifung als geistiger Vorgang“ (Klaus Scholder), die auch in den Kirchen von Woche zu Woche mehr durchdrang: „Die Osterbotschaft von dem auferstandenen Christus ergeht in Deutschland in diesem Jahr an ein Volk, zu dem Gott durch eine große Wende gesprochen hat. Mit allen evangelischen Glaubensgenossen wissen wir uns eins in der Freude über den Aufbruch der tiefsten Kräfte unserer Nation zu vaterländischem Bewusstsein, echter Volksgemeinschaft und religiöser Erneuerung. […] In der Überzeugung, dass die Erneuerung von Volk und Reich nur von diesen Kräften getragen und gesichert werden kann, weiß die Kirche sich mit der Führung des neuen Deutschland dankbar verbunden. Sie ist freudig bereit zur Mitarbeit an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes.“ In 10 000 Exemplaren ging diese Botschaft an alle preußischen Superintendenten mit dem Auftrag, sie am 1. Osterfeiertag von allen Kanzeln bekannt zu machen. Als Oberkonsistorialrat war Otto Dibelius in der preußischen Kirchenleitung vertreten und dürfte an dieser Botschaft mitgewirkt haben.[4]
Aber Dibelius’ große Stunde schlug schon einige Wochen früher, anlässlich des Tages von Potsdam am 21. März 1933. Neuere Forschungen von Matthias Grünzig haben gezeigt, dass Dibelius bereits während der Planungen zu diesem staatspolitischen Großereignis seit Anfang März eine sehr maßgebliche Rolle spielte, was die Gestaltung der Feier und die kirchliche Beteiligung betraf. Während Kirchenjurist Hermann Kapler, Präsident des Oberkirchenrats, und Georg Burghart, als geistlicher Vizepräsident der rangoberste Theologe der preußischen Landeskirche, allerhand Bedenken gegen eine Eröffnung des neu gewählten Reichstags in der Garnisonkirche vorbrachten, setzte sich Dibelius sofort für einen feierlichen Staatsakt in der Traditionskirche ein. Am 5. März schrieb er in seiner regelmäßigen Kolumne „Sonntagsspiegel“ im deutschnationalen Parteiblatt: „Der Gedanke, den neuen Reichstag in Potsdam, über dem Grab Friedrichs des Großen, zu eröffnen, hat einen lauten Widerhall gefunden. 1848 die Paulskirche, 1919 das Theater in Weimar, 1933 die Garnisonkirche in Potsdam – solche Symbole prägen sich dem Gedächtnis eines Volkes tiefer ein als alle Reden. Sie stellen einen neuen Abschnitt der Geschichte in ein bestimmtes Zeichen.“[5] Dibelius zeigte sich im Vorfeld des Events bestrebt, den politischen Staatsakt zugleich zu einem Ereignis von „starker kirchlicher Kraft“ zu machen. Er sah darin die Chance, dass sich nun zwischen Staat und Kirche, im Gegensatz zur Weimarer Zeit, wieder „ein enges organisches Verhältnis“ bilden könne. Zunächst offen war noch die Frage, wer an diesem Tag in der Nikolaikirche die evangelische Predigt halten würde. Normalerweise wäre Georg Burkhart als oberster Geistlicher der preußischen Kirche berufen gewesen. Aber auch hier gelang es Dibelius, sich für diesen Tag das geistliche Wort von der Kirchenkanzel zu sichern und damit das Privileg, jenem großen Tag durch seine Predigt den kirchlichen Prägestempel aufzudrücken.[6]
An diesem herausgehobenen Tag, einem symbolpolitischen Gründungsakt des „Dritten Reiches“, in der Nikolaikirche zu predigen – das war zweifellos die ganz große öffentliche Bühne für den tonangebenden preußischen Kirchenmann und politischen Theologen Dibelius. „Otto der Große“, wie ihn etwas despektierlich einige aktive Frauen der Bekennenden Kirche gern nannten, predigte gewissermaßen vor ‚Kaiser und Reich’: Reichspräsident Paul von Hindenburg, etliche Minister des „Kabinetts der nationalen Konzentration“ wie Wirtschaftsminister Hugenberg, Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath, Reichsarbeitsminister und Stahlhelmführer Franz Seldte, schließlich Hermann Göring, Reichstagspräsident und seit April mächtiger preußischer Ministerpräsident, hinzu kam ein Großteil der neu gewählten protestantischen Reichstagsabgeordneten von Nationalsozialisten, Deutschnationalen und den arg geschrumpften bürgerlich liberalen Parteien DVP und DDP. Vermutlich befand sich auch Theodor Heuss unter den Predigthörern.
Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? – so lautete nach Römer 8, Vers 31, das von Dibelius gewählte Predigtmotiv. Das war exakt jene Bibelstelle, über die am 4. August 1914 Hofprediger Ernst von Dryander in Berlin zum Auftakt des Ersten Weltkriegs gepredigt hatte. Und gewiss war Dibelius’ Textwahl eine Reverenz an die hochpatriotische Gott ist mit uns – Stimmung vom August 1914, die viele Protestanten während des Umbruchjahres 1933 aufs Neue empfanden. Auch nun, im März 1933, riefen Dibelius und mit ihm Reichspräsident Hindenburg sowie die politischen Parteien des rechten Lagers Gott als ihren Alliierten im „nationalen Aufbruch“ an. Wenngleich Dibelius’ Predigt auch leicht kritische Untertöne gegenüber der Gewaltpraxis der neuen Machthaber enthielt, so erlag er im Ganzen doch der euphorischen Aufbruchsstimmung der Nationalen und Völkischen, der kräftig anschwellenden NS-Bewegung, der Konservativen und großer Teile der Bürgerlichen. Die Kirche dürfe, so meinte Dibelius unter Verweis auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre, der „rechtmäßigen staatlichen Gewalt“ nicht in den Arm fallen, wenn sie das tue, wozu sie berufen sei. Wenn der Staat gegen die Feinde der staatlichen Ordnung vorgehe, dann möge er in Gottes Namen seines Amtes walten. Sollte „die Ordnung“ dann wieder hergestellt sein, so müsse wieder Gerechtigkeit und Liebe walten. In Oranienburg unweit von Berlin, daran sei erinnert, wurde am selben Tag das Konzentrationslager für die Hauptstadtregion eröffnet.[7]
Beim anschließenden Staatsakt in der Garnisonkirche, der weithin einer religiösen Weihestunde glich, saß Dibelius als hoher Kirchenvertreter in der ersten Reihe. Nach kurzer Ansprache Hindenburgs gab Hitler eine Art Regierungserklärung ab, vage und im Ton moderat. Es handelte sich, soweit bekannt, um die einzige Rede, die Hitler jemals in einer Kirche hielt. Der Reichskanzler dankte dem Reichspräsidenten für seinen Entschluss, am 30. Januar das „junge Deutschland“ mit der Staatsführung zu betrauen. Die Zeremonie in der Kirche bezeichnete Hitler als „die Vermählung … zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft“. Preußen und Hitlerbewegung reichten sich feierlich die Hand. Mit Dank wandte sich der Reichskanzler erneut an Hindenburg und nannte ihn den Schirmherrn über „die neue Erhebung unseres Volkes“. Dibelius hatte den anschließenden Händedruck in der Kirche zwischen Hindenburg und Hitler aus nächster Nähe verfolgen können. Wenige Tage später schilderte er die Szene, sichtlich gerührt, im kirchlichen Sonntagsblatt: Würdig, ernst und eindruckvoll seien Hitlers Worte gewesen. „Zum Schluss der Rede die Kundgebung an den Reichspräsidenten. Alles erhebt sich. Als das letzte Wort gesprochen ist, tritt Hitler von dem Pult zurück. Der Reichspräsident tut einen Schritt nach vorn und streckt ihm die Hand entgegen. Hitler ergreift sie und beugt sich tief, wie zum Kuss, über die Hand des greisen Feldmarschalls. Es ist eine Huldigung in Dank und Liebe, die jeden ergriffen hat, der sie mit ansah.“[8]
Soweit liefen die Dinge im Frühjahr 1933 eigentlich recht gut für Dibelius. Mit der Grundrichtung des politischen Umbruchs war er einverstanden. Von Zeit zu Zeit richtete er in Rundbriefen und Zeitungsartikeln mahnende Worte an seine Kirche, insbesondere an die Pfarrer der Mark Brandenburg, die Eigenständigkeit der Kirche und die Reinheit der Evangeliumsverkündigung zu wahren, bei aller nun unter Protestanten herrschenden Zustimmung oder sogar Begeisterung für die politische Wende. Auch seine Bereitschaft, am 3. April – wenige Tage nach dem von NSDAP und SA organisierten Judenboykott vom 1. April – über den Kurzwellensender beschwichtigende Worte an die US-amerikanische Öffentlichkeit, namentlich die protestantischen Kirchen, zu richten, spricht für sein grundsätzliches Einverständnis. Der Boykott, so erklärte er, sei lediglich eine Gegenaktion zur antideutschen jüdischen Boykottagitation im Ausland. In Deutschland sei die Aktion am 1. April in „absoluter Ruhe und Ordnung“ verlaufen. Es habe nur einen blutigen Zwischenfall in Kiel gegeben. Nebenher laufe eine Aktion, Juden aus der staatlichen Verwaltung, besonders aus Richterstellen, zu entfernen. Juden bildeten weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Hier, auf diesem Gebiet, sollen die Verhältnisse wieder so werden, wie sie früher waren. Die Kirche wünsche, dass bald wieder Liebe und Gerechtigkeit herrsche. Das hänge allerdings davon ab, ob draußen in der Welt die Agitation gegen Deutschland aufhöre. Dibelius bat die christlichen Freunde in Amerika, sie möchten ihren Einfluss dafür einsetzen, dass keine falschen Nachrichten über Deutschland mehr verbreitet würden.[9]
In seiner „Wochenschau“ vom 9. April bekräftigte Dibelius in grundsätzlicher Weise seine positive Haltung zur NS-Judenpolitik. Jedes Kind in Deutschland, so führt er aus, kenne die Fülle der jüdischen Namen, die seit 1918 in der deutschen Politik hervorgetreten seien: Landsberg, Luxemburg, Heilmann, Hilferding. Und noch viel bekannter seien die Namen der Barmat, Kutisker, Sklarek und wie sie alle lauteten. Es könne kein Zweifel sein, dass bei allen dunklen Vorkommnissen der letzten 15 Jahre das „jüdische Element“ eine führende Rolle gespielt habe. Dagegen wende sich nun die Stimmung eines Volkes, das mit den Folgen der Revolution aufräumen wolle. Deshalb fühle sich das Judentum bedroht und mache im Ausland Stimmung gegen das neue Deutschland. Wieder einmal zeige sich, wie schon zu Weltkriegszeiten, „wie unfreundlich die Welt im Grund des Herzens über Deutschland denkt.“ Die angelsächsischen Länder brächten für die „Judenfrage“ schwerlich Verständnis auf. Die „angelsächsische Rasse“ sei viel zu kräftig und zäh, um sich von jüdischer Zuwanderung schwächen zu lassen. In Deutschland sei das anders. Durch unsere geografische Nähe zu den großen Rekrutierungsgebieten des Judentums in Galizien und im Inneren Polens sei unser Volksleben durch allzu starken jüdischen Einfluss gefährdet. Diesen Unterschied der Verhältnisse begreife kein Engländer oder Amerikaner. Bereits mehrere kirchliche Stimmen seien den ausländischen „Lügenmeldungen“ entgegengetreten. „Schließlich hat sich die Reichsregierung genötigt gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren – in der richtigen Erkenntnis, dass durch die internationalen Verbindungen des Judentums die Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich gefährlich wird.“ Das Ergebnis dieser Vorgänge werde eine Zurückdrängung jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben sein. Dagegen, so Dibelius, werde niemand im Ernst etwas einwenden können.[10]
Grundsätzlich sei die „Judenfrage“ damit noch nicht gelöst. Zweierlei müsse getan werden: Erstens sei die deutsche Ostgrenze gegen jüdische Einwanderung zu sperren. In dieser Hinsicht hätten sich die deutschen Regierungen seit 1918 „auf das schwerste versündigt“. Sie hätten Zehntausenden von „unerfreulichen Elementen“ das deutsche Staatsbürgerrecht verliehen. Sobald die jüdische Einwanderung abgesperrt sei, werde das Judentum in Deutschland zurückgehen. „Die Kinderzahl der jüdischen Familien ist klein. Der Prozeß des Aussterbens geht überraschend schnell vor sich.“ Zweites Erfordernis sei die „Festigung der eigenen Art, die einer fremden Rasse nicht erliegt. An dieser Festigkeit hat es im deutschen Volk immer gefehlt. Und es wird auch in Zukunft daran fehlen, wenn nicht christliches Gewissen die Verantwortung für das Volkstum, das Gott gegeben hat, zu einer Kraft im Leben jedes Einzelnen werden lässt.“[11]
Ich sagte eingangs: Otto Dibelius war kein Nazi. Wer diese Zeilen liest, eine Woche nach dem Judenboykott und nur zwei Tage nach Erlass des rassistischen Berufsbeamtengesetzes vom 7. April publiziert, könnte beinahe Zweifel bekommen. Was er hier in einem Grundsatzartikel zur „Judenfrage“, gerichtet an seine evangelischen Leser, ausführte, ging ja doch wohl deutlich über christlich motivierten theologischen Antijudaismus hinaus. Den Rassebegriff verwendet er zwar nur bezogen auf eine „angelsächsische Rasse“, die kräftig sei, und bezogen auf das Judentum, das er hier in Andeutung als „fremde Rasse“ qualifiziert. Für die Deutschen spricht er nicht ausdrücklich von Rasse, sondern von eigener Art, also deutscher Art, und einem von Gott gegebenen „Volkstum“. Seine Sprache kam hier der nationalsozialistischen Terminologie schon bedenklich nahe und war mehr als gewöhnlicher nationalprotestantisch-christlicher Antijudaismus. Dibelius dachte und äußerte sich im April 1933 in der Sprache eines explizit völkisch denkenden Deutschnationalen und brachte uneingeschränkte Sympathie für die aktuelle nationalsozialistische Judenpolitik zum Ausdruck.[12]
Der junge Privatdozent der Theologie Dietrich Bonhoeffer indessen dachte anders und erklärte in einem Vortrag jener Tage über die so genannte „Judenfrage“, die Kirche müsse Solidarität mit den Verfolgten üben und habe die Pflicht, einem gewalttätigen Staat notfalls auch in die Speichen zu greifen. Die evangelische Historikerin und Religionslehrerin Elisabeth Schmitz rief in einem besorgten Brief an Karl Barth, den renommierten Bonner Theologen, im April 1933 dazu auf, die Gewissen wach zu rütteln und öffentlich für die verfolgten Juden zu sprechen.[13]
Nun kündigte sich während dieser Wochen allerdings auch öffentlicher Stress an für den noch unverändert amtierenden märkischen Generalsuperintendent. Am 8. März hatte Dibelius ein „vertraulich“ gekennzeichnetes Rundschreiben an die Pfarrer seiner Region gerichtet. Drei Tage nach den letzten Reichstagswahlen verschickt, begrüßte Dibelius hierin den Wahlsieg der Rechtskoalition: Zum ersten Mal seit der Revolution – er meinte damit die Novemberrevolution von 1918 – sei eine parlamentarische Mehrheit von „bewusst nationaler Haltung“ entstanden. „Es werden unter uns nur wenige sein, die sich dieser Wendung nicht von ganzem Herzen freuen.“ Für Kirche und Predigt müsse auch weiterhin gelten, das Evangelium und nur das Evangelium zu predigen, keine menschliche Ideologie. Die Kirche dürfe nicht Hass predigen. Und es dürfe nicht sein, so wandte er sich direkt an die Geistlichen seines Sprengels, dass Pfarrer mit politischen Abzeichen durch die Gemeinde gingen und Gemeindeglieder mit Parteigruß begegneten. Dies war unverkennbar gegen den Vormarsch von DC in Kirche und Pfarrerschaft gerichtet. In seinem Tenor war dieser Rundbrief nichts Neues oder Außergewöhnliches, beileibe kein politischer Angriff auf das neue Regime.[14] Gleichwohl rief das Schreiben heftige Polemiken aus den Reihen der Deutschen Christen hervor, namentlich von Wilhelm Kube, der seit 1928 die NSDAP-Fraktion im Preußischen Landtag leitete und inzwischen zum Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg aufgestiegen war.[15] Auf der 1. Reichstagung der DC Anfang April griff er Dibelius wegen dieses Rundbriefs frontal an. Kube hatte die DC mitbegründet und rief bereits seit Jahresbeginn 1932 zur Eroberung der Kirche durch evangelische Nationalsozialisten auf. Seit der Machtübernahme vom Januar 1933 erlebten die DC einen mächtigen Zuwachs, viele Pfarrer in Berlin und Brandenburg schlossen sich dieser völkischen und scharf antisemitischen „Glaubensbewegung“ an.[16] Wenn Dibelius im Umbruchjahr 1933 kirchenpolitischen Stress zu erleiden hatte, dann geschah dies in erster Linie durch den Ansturm dieser innerkirchlichen Glaubensbewegung, die aggressiv auf Absetzung des kompletten Kirchenestablishments drang und die Eroberung der preußischen Landeskirche zum Ziel hatte. Seither gab es diverse Polemiken und Kampagnen gegen Dibelius, der in den Augen Kubes und seiner DC-Glaubensgenossen als prominente Verkörperung der alten Honoratiorenkirche galt. Die Parole lautete in diesen Kreisen seither: Dibelius muss weg.[17]
Aber vorläufig war der kurmärkische Generalsuperintendent noch im Amt und regierte wie gewohnt in seinem Sprengel. Von Pfarrern und Superintendenten kamen wegen der zumeist parteipolitisch motivierten Angriffe der DC etliche Solidaritätserklärungen für Dibelius. Er verfasste weiterhin Kommentare zum politischen Zeitgeschehen. Mit dem allgemeinen Gang der Dinge in der großen Politik war er einverstanden, teilweise sogar begeistert. In seiner „Wochenschau“ von Mitte Mai äußerte er sich mit großer Freude über die nationalsozialistische Umprägung der einst roten 1. Mai-Feiern zum „Tag der nationalen Arbeit“. Er lobt den „Volkskanzler Hitler“ und preist in diesem Zusammenhang das „geniale Organisationstalent eines Mannes, wie es Dr. Goebbels ist.“ Bislang sei der 1. Mai der „Tag des Klassenkampfes“ gewesen. Jetzt hingegen sei es ein Tag aller Stände und Berufe. Und auch die Kirchen, die früher abseits standen, hätten nun durch Gottesdienste mitfeiern können. „Es war ein ungeheurer Umschwung. Und dieser Umschwung ist in erster Linie dem Kanzler Adolf Hitler zu danken.“[18]
Wie alljährlich konnte Dibelius gegen Ende Mai 1933 in Potsdam noch einmal seinen kurmärkischen Kirchentag durchführen. Es war der letzte große Auftritt für den prominenten Kirchenführer. Wie ein umfangreicher Potsdamer Zeitungsbericht zeigt, war das Fest ein die städtische Öffentlichkeit weithin beherrschendes Großereignis. Den Auftakt bildete ein Festgottesdienst in der Garnisonkirche. Die Kirche, so der Bericht, sei bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen. Hinter dem Altar hätten die Fahnenträger der nationalsozialistischen Betriebszellen und des Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten Aufstellung genommen. Seitlich vom Altar standen die Jungen und Mädchen der evangelischen Jugendbünde mit ihren Wimpeln. Generalsuperintendent Dibelius hielt die Festpredigt über Offenbarung Joh. 3,3 und 11: „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen. (…) Halte was du hast, dass niemand deine Krone nehme.“[19]
„Ausgehend von der historischen Stunde in der Garnisonkirche am 21. März erinnerte der Prediger an die beiden Männer, die in dem Mittelpunkt dieser Stunde gestanden hatten, mit der eine neue Epoche in der Geschichte unseres Volkes begonnen habe. Auch die Kirche ist damit zu neuer Tat aufgerufen. Der Kanzler habe davon gesprochen, dass die Entgiftung des deutschen Volkslebens Vorbereitung für tiefe religiöse Einkehr sei. Damit ist der Kirche ihr Dienst gewiesen. Die Vorbereitung hat begonnen. Der Schmutz von den Straßen, der vergiftende Klassenhaß ist weithin von der Seele entfernt. Viele Kinder erhalten zum erstenmal Religionsunterricht in der Schule, viele Erwachsene haben in diesen Tagen zum erstenmal seit langer Zeit wieder einmal den Fuß in ein Gotteshaus gesetzt. Das ist die Vorbereitung. Gott hat uns damit von neuem eine offene Tür gegeben.“
Weiter referiert der Bericht die Predigt: Gottes Befehl an uns laute, durch diese offene Tür solle die evangelische Kirche hindurchgehen. Sie, die Kirche, habe etwas zu bringen, was kein anderer hat: den Glauben. Einigkeit des Glaubens müsse von Gott geschaffen werden. Das Volk werde im Glauben einig, wo es sich unter das ganze Evangelium stelle. Dieses Evangelium, so betonte der Prediger, haben wir in der Sprache zu sagen, die der heutige Mensch versteht. Das zweite, was wir beim Eingang durch die offene Tür zu sagen haben, sei das „Geheimnis des Gebets“. „Das ganze Evangelium, das Geheimnis des Gebetes und die Kraft der dienenden Liebe sei der Kirche heiliger Dienst am Volk. Kirche, halte was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“
Im Anschluss folgte eine Jugendkundgebung vor dem Stadtschloss. Mit Fahnen und Wimpeln, so der Bericht, marschierten evangelische Jungmänner- und Mädchengruppen und Hitler-Jugend vor der Rampe auf. In Anwesenheit von Dibelius sprach Pfarrer Friedrich Peter zur evangelischen Jugend. Peter, das sei hier eingefügt, war ein prominenter DC-Theologe, er gehörte der Glaubensbewegung seit ihrer Gründung 1932 an und war Mitglied ihrer Reichsleitung.[20] Peter verkündete der evangelischen Jugend: Volksgemeinschaft und Evangelium seien uns von Gott geschenkt. Wir stehen heute zum Führer, der uns von der Dämonie des Bolschewismus befreit habe. Aber wir stehen auch zum Evangelium. Nur so könne Gott auf Dauer seinen Segen dazu geben. Am Nachmittag schloss sich ein Jugendgottesdienst in der wiederum überfüllten Nikolaikirche an. In seiner Ansprache habe Generalsuperintendent Dibelius die Entscheidungsfrage gestellt: „Invalidenstraße oder Siegesallee? Alles Leben sei Kämpfen, Volksleben wie Einzelleben. Gott will nicht, dass es in Niederlagen stecken bleibe und zur Invalidenstraße werde, sondern dass es sich immer wieder zum Siege durchringe und so zur Siegesallee werde.“[21]
Eine tiefe Zäsur bedeutete die Einsetzung von August Jäger als Staatskommissar für den Bereich sämtlicher evangelischer Landeskirchen Preußens durch den preußischen Kultusminister Bernhard Rust am 24. Juni. Jäger stammte aus einem hessischen Pfarrhaus, war Jurist, und zweifellos war er ein ganz extremer Voll-Nazi. In seiner vorübergehenden Funktion als Staatskommissar betätigte er sich als radikaler Erfüllungsgehilfe für die DC-Bewegung bei ihrer Eroberung der Kirchen. Auf seine Anordnung hin wurden sämtliche kirchlichen Körperschaften von den Gemeindekirchenräten bis zu den Synoden aufgelöst. In den bestehenden Leitungsorganen (Oberkirchenrat; Konsistorien) büßten die meisten Theologen ihre Positionen ein und wurden durch DC-Theologen ersetzt. Auch die preußischen Generalsuperintendenten, faktische Regionalbischöfe, sahen sich von heute auf morgen suspendiert. Das war ein veritabler coup d’état, ein Staatsstreich in der Kirche, der mit einem Schlag das Einrücken zahlreicher DC-Theologen in die kirchlichen Leitungsämter ermöglichte und damit eine Art kirchenpolitische Gleichschaltung der Institution mit dem NS-Regime vollzog. Unmittelbar nach Abschluss der Verhandlungen über eine neue Reichskirchenverfassung (12. Juli) dekretierte das Innenministerium für den 23. Juli 1933 Neuwahlen der kirchlichen Körperschaften. Bei dieser letzten Kirchenwahl im „Dritten Reich“ standen nur noch zwei Listen zur Wahl: „Deutsche Christen“ und eine oppositionelle Gruppierung namens „Evangelium und Kirche“. Bei dieser Wahl votierten zwei Drittel bis drei Viertel der Kirchenwähler für die DC. Das war ein entscheidender Schritt bei der deutschchristlichen Eroberung der Kirchen. Die vom evangelischen Kirchenvolk selbst gewählten DC-Majoritäten sollten sich zukünftig als schwere Hypothek erweisen. In der preußischen Landeskirche bereiteten sie die Spaltung und die schweren Kirchenkämpfe der Folgejahre vor.[22]
Nach Beendigung des Einsatzes von Staatskommissar Jäger am 14. Juli wurde die Suspendierung der Generalsuperintendenten aufgehoben. Dibelius konnte noch einmal für einige Wochen seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen, aber er hatte faktisch keine Macht mehr. Im Evangelischen Oberkirchenrat und Konsistorium der Mark Brandenburg gaben nun radikale DC den Ton an. In dieser für ihn prekären Situation verfasste er am 26. Juli 1933 ein 13 Seiten umfassendes Schreiben an die neue DC-Kirchenleitung. Neben seiner Predigt am „Tag von Potsdam“ handelt es sich um die zweite herausragende Wortmeldung von Dibelius im Jahr 1933. Robert Stupperich in seiner apologetischen Dibelius-Biografie von 1989 übergeht dieses Dokument völlig, Hartmut Fritz in seiner Dibelius-Studie von 1998 würdigt dieses Statement nur unzureichend.[23] Dieses Schriftstück zeigt, wie schon die Potsdamer Predigt vom 21. März, Dibelius in seiner schwankenden und ambivalenten Haltung in der Entscheidungssituation von 1933.[24]
Es sei doch ein untragbarer Zustand, so beklagt sich Dibelius eingangs, dass ein Generalsuperintendent in einer Kirche, die ein freudiges Bekenntnis zum neuen Staat abgelegt habe, als politisch unzuverlässig gelte. Hier bedürfe es jetzt der Klärung. Dibelius rekapitulierte sodann verschiedene Angriffe durch einige DC-Theologen gegen seine Person, in seinen Augen eine gezielte Kampagne, um ihn politisch in Verruf zu bringen. Um diese unlauteren Angriffe zu korrigieren, wolle er nun seine tatsächliche Haltung klarstellen. Hinsichtlich seiner politischen Einstellung während der Weimarer Republik, so meinte er jetzt gegenüber der deutschchristlichen Kirchenleitung, sei ihm wenig vorzuhalten. „Ich bin als junger Student Mitglied des Vereins Deutscher Studenten geworden und habe schon während meiner Studentenzeit im Kampf gegen Judentum und Sozialdemokratie gestanden. […] Dieser Haltung meiner Jugendtage bin ich ohne Schwanken treu geblieben bis zu dieser Stunde. […] Wie eine Nachprüfung meiner Aufsätze ergibt, bin ich vom Standpunkt des Evangeliums aus unablässig für den Satz eingetreten, dass es ohne eine neue Macht für Deutschland kein Recht und keinen Frieden auf der Welt geben könne.“[25] Dann sei mit dem 30. Januar der Anbruch des neuen NS-Staates gekommen:[26]
„Ich habe die Aufgabe und die Ehre gehabt, diesen Staat im Gottesdienst der Nikolai-Kirche in Potsdam am 21. März von der Kanzel her zu grüssen. Die Predigt ist gedruckt. Sie beginnt mit einer Parallele zwischen dem 4. August 1914 und dem 21. März 1933. Sie versucht, für die grosse Stunde das Evangelium freudig aber auch ernst zu sagen. Sie bekennt sich zu einem Geist, der die Grösse des Vaterlandes mit Entschlossenheit will. Nach dem Schluss des Gottesdienstes reichte mir der jetzige preussische Ministerpräsident Goering mit einem warmen Wort des Dankes die Hand. Ebenso der Reichsaussenminister. Kurze Zeit darauf sprach ich auf Bitten des Reichsministers Goebbels zusammen mit Bischof Dr. Nuelsen auf dem Kurzwellensender nach Amerika, um den neuen Staat gegenüber der Greuelpropaganda des Auslandes zu verteidigen. Die Rede schloss mit einem Appell an die Deutsch-Amerikaner, freudig zu glauben, dass das deutsche Volk sich selbst wiedergefunden habe und am Anfang einer neuen Epoche stehe.“
Der Glaubensbewegung Deutsche Christen habe er zwar kritisch gegenüber gestanden, zugleich habe er jedoch auch versucht, „mit der Bewegung in Fühlung zu kommen“ und ihr den Weg zu fruchtbarer kirchlicher Arbeit zu öffnen. In diesem Sinne habe er schon vor Monaten Bundespfarrer Friedrich Peter – einem führenden DC-Pfarrer – angeboten, zu einer verantwortlichen Mitarbeit bei seiner Generalsuperintendentur einzutreten.[27] Ferner habe er Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, dem Reichsbischofkandidaten der DC, das große Referat auf dem diesjährigen kurmärkischen Kirchentag Ende Mai angeboten.[28] Überdies habe er Peter zur Mitarbeit im Religionspädagogischen Institut, das seiner Leitung unterstehe, heranziehen lassen. Er habe damit, schreibt Dibelius Ende Juli 1933, zukunftsträchtigen Bewegungen, soweit sie auf dem Grund des Evangeliums stehen, den Weg zu fruchtbarer Entfaltung geben wollen. Im Rhythmus und in den Zielen ihrer Arbeit habe er vieles gefunden, „was meiner eigenen Art und meinen eigenen Zielen“ entspreche, namentlich „das Kämpferische“ und der Wille zu volksmissionarischer Arbeit. Die Losungen, sagt Dibelius, die er Jahr für Jahr der kirchlichen Arbeit der Kurmark gegeben habe, atmeten alle diesen Geist. „Immer wieder habe ich mir und anderen die Frage vorgelegt, ob meine Art der Arbeit dem Wollen der ‚Deutschen Christen’ nicht derartig verwandt sei, dass ein gegenseitiger Streit weder innerlich berechtigt, noch kirchlich tragbar sei.“ Schließlich sei es dann im Laufe des Jahres 1933 der „grösste Schmerz meines Lebens“ gewesen, bekennt Dibelius, dass durch die Einsetzung des Staatskommissars zwischen dem Staat, „dem ich mit freudiger Hingebung zu dienen bereit bin“, und zwischen der Kirche der Konflikt ausbrach, in dem er Stellung für die Kirche habe beziehen müssen. Gegen Ende seines umfangreichen Schreibens wünschte Dibelius eine Verständigung darüber herbeizuführen, wie es mit der Fortführung seines Amtes oder der Überleitung in ein anderes Amt werden solle. Er sei auch zum Martyrium bereit. Ihm gehe es allein um die Kirche. Es dürfe nicht sein, dass die Agitation eines kleinen Kreises einen Generalsuperintendenten ohne Weiteres aus seinem Amt entfernen und ihn auf Dauer diffamieren könne.[29]
Die DC in den neuen Kirchenleitungen reagierten auf Dibelius’ Anfrage über seine weitere kirchliche Verwendung nicht. Salopp formuliert könnte man sagen: Seit Ende Juli 1933, seit dem für die DC triumphalen Ergebnis der Kirchenwahlen, war der einst mächtige, einflussreiche Generalsuperintendent Dibelius kirchenamtlich und kirchenpolitisch weg vom Fenster. Die große innerprotestantische Welle der DC-Bewegung, die bereits 1932 einsetzte, war über ihn hinweggerollt und hatte ihn beiseite geschoben. Dibelius beantragte, noch als Generalsuperintendent, zunächst einen fünfwöchigen Urlaub bis Anfang September. Die neue preußische Generalsynode vom 5.-6. September, wegen ihrer starken DC-Majoritäten auch „braune Synode“ genannt, beschloss die Anwendung des Arierparagrafen im Kirchenbereich. Die Leitungsposition der Generalsuperintendenten wurde abgeschafft. Stattdessen setzten die DC-Synodalen für die preußische Landeskirche Bischofsämter ein, die fast komplett mit DC-Führern besetzt wurden. Dibelius erhielt noch im September sein vom künftigen Reichsbischof Ludwig Müller unterzeichnetes Entlassungsschreiben. Er war nun in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, erhielt jedoch die seiner hohen Position und Dienstzeit entsprechenden Altersbezüge.[30]
Man fragt sich, was machte der einst so gut vernetzte, umtriebige, mächtige preußische Kirchenführer während der zweiten Jahreshälfte 1933? Über administrativen kirchlichen Einfluss verfügte er nicht mehr. Auch gingen seine öffentlichen Verlautbarungen wie Vorträge, Zeitungsartikel etc. zurück. Bei den ersten Schritten zur Herausbildung einer Kirchenopposition gegen die Vorherrschaft der DC spielte er kaum eine Rolle. Das gilt für die Phase der Kirchenwahlen im Juli, wo er in der oppositionellen Gruppe „Evangelium und Kirche“ nicht in Erscheinung trat. Das gilt auch für die turbulenten Tage nach der preußischen Generalsynode, als sich in Berlin um die Pfarrer Gerhard Jacobi und Martin Niemöller der Pfarrernotbund gründete, um gegen die Einführung des Arierparagrafen in der Kirche zu protestieren. Dibelius war ins kirchenpolitische Abseits geraten und gehörte offensichtlich nicht zu den Pionieren einer frühen Kirchenopposition, wozu in Berlin-Brandenburg namentlich Niemöller und Jacobi, ferner der Spandauer Superintendent Martin Albertz, der junge Bonhoeffer und dessen Freund Franz Hildebrandt gehörten, darüber hinaus insbesondere der in Bonn lehrende reformierte Theologe Karl Barth.
Nach Wochen der Ungewissheit und des Abwartens zeichnete sich eine überraschende, wenn auch befristete neue Aufgabe im Ausland ab: Kurprediger in San Remo. Das war gewiss keine Stellung, die den Ansprüchen eines so ambitionierten Kirchenführers wie Dibelius angemessen war. Aber es scheint doch, dass diese Idee im Herbst 1933 seinen eigenen Wünschen nach einer kirchenpolitischen Auszeit und Denkpause entgegenkam. Wie kam es dazu? Helene Dibelius, Frau des Dresdener Oberhofpredigers Franz Dibelius – einem Onkel von Otto Dibelius – , bat am 11. Oktober 1933 Hermann Göring, seinen Einfluss für eine weitere kirchliche Verwendung des pensionierten Generalsuperintendenten geltend zu machen. So entstand das Projekt, Dibelius auf die vakante Stelle des Kurpredigers in Italien zu entsenden. Vermittelt wurde diese Berufung durch die neu gegründete Reichskirche unter Reichsbischof Müller, konkret durch das zuständige kirchliche Außenamt unter Leitung von Theodor Heckel. Zum 1. Dezember 1933 trat der Ruheständler Dibelius sein auf sechs Monate befristetes Amt als Kurprediger in San Remo an.[31]
Wie verbrachte der umtriebige Kirchenführer sechs Monate abseits des deutschen Kirchenkampfes an der italienischen Riviera? Die Quellenlage ist dünn. Einige Kopien, die ich jetzt von der Gemeinde in San Remo erhielt, geben immerhin etwas Aufschluss. Demnach hatte Pfarrer Eugen Lessing aus Florenz, zugleich Vertrauensmann der evangelischen Gemeinde San Remo, bereits Ende September 1933 bei der Kirchenleitung in Berlin den Wunsch geäußert, den ausgemusterten Generalsuperintendent nach San Remo zu entsenden. Dibelius’ Gemeindetätigkeit, so zeigen die Unterlagen, trug durch Gottesdienste und Vorträge zu einer spürbaren Belebung bei. Nebenher verfasste Dibelius Jugenderinnerungen und bereitete ein kirchliches Andachtsbuch vor, das bald darauf in vielen Auflagen bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erscheinen sollte.[32] Als sein Aufenthalt im April-Mai 1934 dem Ende zuging, bat die Gemeinde um eine Verlängerung des Auftrags für Dibelius. In einem ausführlichen Schreiben vom 27. Mai 1934, also kurz vor seiner geplanten Rückkehr, erklärte hierzu Dibelius: Er habe inzwischen nicht den Eindruck, dass seine Heimatkirche gewillt sei, ihn noch einmal in eine verantwortliche Mitarbeit zu berufen. Eine endgültige Übersiedlung nach San Remo wolle indessen überlegt sein. Sechs Monate im Hotel seien schon reichlich gewesen, zum zweiten Mal für sechs Monate auf seine Bücher zu verzichten, das wäre ihm ein großes Opfer. Die Einnahmen der Gemeinde seien während seiner Tätigkeit gestiegen. 400 M. könnte sie wohl für sein Pfarrgehalt aufbringen, bei guter Saison ließe sich noch „dies und das aus den Kurgästen herausholen“. Er wäre zu einer Verlängerung bereit, wenn die Kirchenregierung wieder zu gleichen Bedingungen zustimmen würde. Allerdings betrage die Differenz zwischen seinem derzeitigen Gehalt und seiner Pension doch viel mehr, als bisher zusätzlich für seinen Einsatz aufgewandt worden sei. Es sei ihm zweifelhaft, ob die Pensionskassen höhere Beträge als bisher erneut bezahlen wollten.[33]
Am 3. Juni 1934 kehrte Dibelius nach Berlin zurück. Im evangelischen Kirchenkampf in der Heimat waren inzwischen die Würfel gefallen. Auf den großen Ansturm der DC im Jahr 1933, der sie an die Spitze einer neu gebildeten Reichskirche und in allen Landeskirchen in die Kirchenleitungen gebracht hatte, antwortete die Kirchenopposition mit Gründung des Pfarrernotbunds (September 1933), mit dem Zusammentritt freier Bekenntnissynoden seit Jahresbeginn 1934 und schließlich mit der 1. Reichsbekenntnissynode Ende Mai, die mit der Barmer Theologischen Erklärung die wegweisende Magna Charta der Kirchenopposition gegen die DC verabschiedete. Dibelius war nicht dabei gewesen. Er war abwesend, als das Haus der Kirche lichterloh brannte, und er kam zurück, als sich die Fronten geklärt hatten. Seine Performance während des Entscheidungsjahrs 1933 zerfällt in zwei Hälften. Im ersten Halbjahr zeigte er sich erfreut über das Ende von Weimar und den politischen Systemwechsel, beharrte auf kirchlicher Eigenständigkeit und versuchte, durch völkische wie antisemitische Statements auch mit den volksmissionarischen DC „in Fühlung“ zu bleiben. Exemplarischer Beleg dafür ist seine Gestaltung des Kurmärkischen Kirchentags Ende Mai 1933 in Potsdam. Auch sein von Anbiederung nicht freier Brief an die neue DC-Kirchenführung vom 27. Juli um weitere Verwendung belegt eine solche Haltung. Aber die DC gingen darauf nicht ein. Im Erfolgsgefühl ihrer neuen kirchlichen Macht servierten sie den Generalsuperintendenten, der die alte Kirche repräsentierte, schlichtweg ab.
In der zweiten Jahreshälfte 1933 war Dibelius unübersehbar ins kirchenpolitische Abseits geraten. Administrative Macht hatte er nicht mehr. Bei den ersten Schritten der Entstehung einer Kirchenopposition gegen die völkische Umprägung der Kirche war er nicht dabei. Offenbar hatte er nun erheblichen persönlichen Klärungsbedarf. Dibelius nahm eine Auszeit und legte eine halbjährliche Denkpause in San Remo ein. Als er dann im Juni 1934 zurückkehrte, hatte er keine Wahl mehr. Er folgte nun dem Ruf seines Oranienburger Pfarrers Kurt Scharf und half beim Aufbau einer BK im Raum Brandenburg.
Genugtuung über den politischen Wechsel von der Weimarer Demokratie zum völkischen NS-Regime sowie Zögerlichkeit und Schwanken in der kirchenpolitischen Entscheidungssituation prägten sein Verhalten in dem Jahr, als Hitler die Macht erlangte.
[1] Wichtigste biografische Studien zu Dibelius sind: Robert Stupperich, Otto Dibelius. Ein Bischof im Umbruch der Zeiten, Göttingen 1989; Hartmut Fritz, Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur, Göttingen 1998.
[2] Zur DNVP und zum „Kabinett der nationalen Konzentration“: Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928-1932, in: HZ 276, 2003, S. 323-368; Volker Ullrich, Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, Frankfurt am Mai 2013, S. 387-420.
[3] Zu kirchlichen Befindlichkeiten unmittelbar nach Hitlers Machtantritt: Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt am Main/Berlin 1977, S. 277-299; für Berlin: Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 89-115.
[4] Vgl. hierzu Scholder, Die Kirchen, Bd. 1, S. 299 (dort auch das Zitat).
[5] Vgl. Otto Dibelius, Sonntagsspiegel, in: Der Tag, 5.3.1933; hier zit. nach Stupperich, Dibelius, S. 203.
[6] Diese Darstellung nach: Matthias Grünzig, Für Deutschtum und Vaterland. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert, Berlin 2017, S. 148-159.
[7] Zum Gottesdienst in der Nikolai-Kirche: Grünzig, Für Deutschtum, S. 165-167; Dokumentation des Predigttextes: Otto Dibelius, „Ein Reich, ein Volk, ein Gott“, in: Das Evangelische Deutschland, Nr. 13, 26.3.1933.
[8] Wortlaut der Rede Hitlers: Adolf Hitler, Rede bei der Eröffnung des neu einberufenen Reichstags, 21. März 1933, in: Verhandlungen des Reichstags. VIII. Wahlperiode 1933, Bd. 457, Berlin 1934, S. 6-10; der Bericht Dibelius in: Otto Dibelius, Wochenschau, in: Berliner Evangelisches Sonntagsblatt vom 2.4.1933.
[9] Vgl. Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987, S. 40 f. (nach einem Bericht des „Reichsanzeigers“ vom 6.4.1933).
[10] Otto Dibelius, Wochenschau, in: Berliner Evangelisches Sonntagsblatt 55, Nr. 15, 9.4.1933.
[11] Ebd.
[12] Zu Antisemitismus bei Dibelius s. Gerlach, Bekennende Kirche, S. 40-43.
[13] Zu Bonhoeffers Vortrag bzw. Artikel „Die Kirche vor der Judenfrage“ s. Scholder, Die Kirchen 1, S. 350-352; zum Brief Elisabeth Schmitz an Barth s. Manfred Gailus, Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010, S. 84 f.
[14] Zum Rundbrief s. Scholder, Die Kirchen 1, S. 293-295 (Zit. ebd.).
[15] Wilhelm Kube (1887-1943), geb. in Glogau (Schlesien), studierte Geschichte, Staatswissenschaften und Theologie; er gehörte der völkischen Bewegung an, seit 1924 Reichstagsabgeordneter, seit 1928 Mitglied der NSDAP und Gauleiter der Ostmark bzw. Kurmark; seit 1933 Oberpräsident der Provinz Brandenburg. Seit 1941 Generalkommissar Weißrussland, 23.9.1943 durch Bombenanschlag einer Partisanin getötet.
[16] Zum Vormarsch der DC in der Region: Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 89-122.
[17] Vgl. Stupperich, Dibelius; Fritz, Dibelius.
[18] Vgl. Otto Dibelius, Wochenschau, in: Berliner Evangelisches Sonntagsblatt 55, Nr. 20, 14.5.1933.
[19] Vgl. Potsdamer Tageszeitung vom 29.5.1933; dort auch die weiteren Zitate.
[20] Friedrich Peter: geb. 1892 Merseburg; aktiver Kriegseinsatz, nach dem Theologiestudium Ordination 1921; seit 1926 Pfarrer an der Segenskirche Berlin, 1927 Bundespfarrer der Ostdeutschen Ev. Jungmännervereine; 1.4.1933 NSDAP; 1932 Mitbegründer der DC und Mitglied der 1. Reichsleitung, Referent für Jugendfragen; 1933 Berufung zum OKR im EOK und Bischof für die preußische Kirchenprovinz Sachsen mit Amtssitz in Magdeburg; 1936 Abberufung und Domprediger Domgemeinde Berlin.
[21] Nach dem Bericht in: Potsdamer Tageszeitung vom 29.5.1933.
[22] Zu diesen kirchengeschichtlich dramatischen Wochen im Juni und Juli 1933 s. Scholder, Die Kirchen 1, S. 422-481.
[23] Vgl. Stupperich, Dibelius; Fritz, Dibelius.
[24] Vgl. EZA, Bestand 50, Nr. 483, Scharf/Pfarrernotbund 1933; Schreiben Der Generalsuperintendent der Kurmark, Berlin-Steglitz 26.7.1933 an den EOK und das provisorische Geistliche Ministerium, Bl. 65-71.
[25] Ebd., S. 7.
[26] Ebd., S. 8 f.
[27] Zu Peter s. Anm. 20.
[28] Ludwig Müller: geb. 1883 Gütersloh, nach Theologiestudium Ordination 1908?, 1914—18 Marinepfarrer Wilhelmshaven, 1920 Garnisonkirche Cuxhaven, 1926 Wehrkreispfarrer Königsberg und früher Förderer Hitlers; 1931 NSDAP, seit April 1933 als Bevollmächtigter Hitlers für ev. Kirchen nach Berlin; August 1933 preußischer Landesbischof; seit September 1933 Reichsbischof; nach dem kirchenpolitischen Scheitern seit Herbst 1934 Prediger und Vortragsreisender mit Titel Reichsbischof; verstorben 1945.
[29] Die weiteren Zit. ebd., S. 10, S. 13.
[30] Vgl. hierzu Stupperich, Dibelius, S. 209-219; und Fritz, Dibelius, S. 427-429.
[31] Vgl. hierzu Fritz, Dibelius, S. 427 f.
[32] Es handelt sich um: Otto Dibelius, Heimkehr zum Wort. Ein Andachtsbuch aus der bekennenden Kirche, Göttingen 1934. Vgl. hierzu Stupperich, Dibelius, S. 220-223.
[33] Vgl. Der Generalsuperintendent der Kurmark a. D. in San Remo am 27.5.1934 an Pfarrer Lessing in Florenz, in: Kirchenarchiv San Remo.
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