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Ein Kommentar von Horst Junginger zur Eröffnung der Garnisonkriche am 22. August 2024
Nichts zeigt deutlicher als das Interview von Boris Pistorius mit dem ZDF am 29. Oktober 2023, dass die Bundesrepublik einen neuen militärpolitischen Kurs eingeschlagen hat. Die Dekade naiver Friedenssehnsucht sei mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine zu Ende gegangen. Den Leitspruch, dass Deutschland kriegstüchtig werden müsse, hat der Verteidigungsminister seither viele Male wiederholt. Stand ihm dabei die Jungfernrede vor Augen, die der Chemnitzer SPD-Abgeordnete Gustav Noske am 25. April 1907 im Reichstag gehalten hatte? Auch ihm ging es um das doppelte Bekenntnis zur Wehrtüchtigkeit des Landes und das seiner Partei. Vor allem wollte Noske aber den Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit entkräften. Es sei infam, der SPD mangelnde Verteidigungsbereitschaft zu unterstellen: „Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht etwa von irgend einem anderen Volk an die Wand gedrückt wird.“
Wie man Band 228 der Verhandlungen des Reichstages weiter entnehmen kann, stimmte Noske mit dem preußischen Kriegsminister Karl von Einem darin überein, dass deutsche Soldaten die besten Waffen der Welt bräuchten. Auch er selbst wolle, wenn es einmal soweit sei, mit einem modernen Gewehr und nicht mit der Heugabel in der Hand in den Krieg ziehen. Bei den Rechtsparteien stießen die Ausführungen Noskes zuerst auf ungläubiges Staunen und dann auf Wohlwollen. Der antisemitische Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg sagte fünf Tage später: „Wenn der Abgeordnete Noske neulich bei der Beratung des Heeresetats mit beinahe begeistert klingenden Worten die Bereitwilligkeit der deutschen Sozialdemokratie erklärte, an einem Kampfe teilzunehmen, der Deutschland aufgezwungen würde, so wollen wir das ruhig einmal vollständig ernst nehmen und als einen Anfang zur Besserung betrachten.“
Stellt man sich die Frage, warum die Reichstagsfraktion der SPD am 4. August 1914 den Kriegskrediten zustimmte, findet man die Antwort in Noskes Argumentation bereits vorweggenommen. Der Köder, der die Sozialdemokratie auf die Linie des Kaisers einschwenken ließ, bestand in der Behauptung, einen gerechten Verteidigungskrieg zu führen, dem sich die SPD nicht entziehen dürfe. Dieser Argumentation schloss sich der rechte Parteiflügel umso leichter an, als sich damit die Aussicht auf Positionen in Staat und Militär verband. Im Februar 1919 wurde Noske Reichswehrminister und damit auch Amtsnachfolger Karl von Einems.
Si vis pacem para pacem
Der Leitsatz der Friedensbewegung „Wenn Du Frieden willst, bereite den Frieden vor.“ steht zurzeit nicht hoch im Kurs. In auffallender Eile hat die Politik den menschenverachtenden Angriff Russlands auf die Ukraine zum Anlass genommen, alle Friedensappelle als blauäugig zurückzuweisen. Ohne Aufrüstung sei man dem Gegner schutzlos ausgeliefert. Deutschland brauche die militärische Option, um auf dem internationalen Parkett das Maß an Verantwortung übernehmen zu können, das seiner wirtschaftlichen Bedeutung entspreche. Für die aus der Mottenkiste des Kalten Kriegs hervorgeholte Losung „Si vis pacem, para bellum.“ kommt der Wiederaufbau der Garnisonkirche zum richtigen Zeitpunkt. Mit ihrer soldatischen Tradition verkörpert sie in einzigartiger Weise den Aufstieg Preußens zur führenden Nation in Europa. Die religiöse Einweihung des Garnisonkirchenturms am 1. April und der Festakt am 22. August 2024 lassen sich vor diesem Hintergrund als Etappenziele auf dem Weg zu einem Bauwerk von nationaler Bedeutung verstehen.
Allerdings ist die Symbolik der Garnisonkirche mit dem Problem belastet, dass sie heute das Gegenteil von dem bedeuten soll, wofür sie früher stand. Man rekonstruiert eine Kriegskirche und erhält eine Friedenskirche. Bei dem, was hier als Quadratur des Kreises daherkommt, handelt es sich um einen Widerspruch in sich selbst und um die Verschleierung der Tatsache, dass die Garnisonkirche von Anfang bis Ende der speziellen Logik des preußischen Militärstaats folgte: „Si vis bellum para bellum.“ Wenn Du Krieg führen willst, muss Du ihn in jeder, v.a. auch in religiöser Hinsicht, bestmöglich vorbereiten. Nur dann kannst Du ihn auch gewinnen. Nie wurde in der Garnisonkirche für den Frieden gebetet. Immer ging es um den Sieg über äußere und innere Feinde und das kirchliche Versprechen, der Herr der himmlischen werde dem Herrn der irdischen Heerscharen dazu verhelfen.
Kein Kirchenführer der neueren Zeit war so versiert darin, einen Krieg mit Hilfe der Religion zu legitimieren, wie der „Jahrhundertbischof“ Otto Dibelius. Die Art und Weise, wie er das Kriegshandwerk nach 1914 als „heiligen Gottesdienst“ verklärte, steht in der Theologiegeschichte einzigartig da. Am Tag von Potsdam forderte Dibelius die Nationalsozialisten dazu auf, die innenpolitischen Feinde Deutschlands mit harter Hand zu bekämpfen. Unumwunden stellte er sich in seiner Predigt in der Nikolaikirche in die Tradition Luthers, der 1525 von den Fürsten verlangt hatte, die aufständischen Bauern niederzumachen und keine Gnade walten zu lassen. Ein paar hundert Meter weiter versprach Hitler vor dem Altar der Garnisonkirche, genau das tun zu wollen. De facto hatte er damit bereits Anfang Februar begonnen und sein Augenmerk besonders auf Sozialdemokraten und Kommunisten gelegt. Am 4. April 1933 meldete der kurmärkische Superintendent gewissermaßen Vollzug, als er bei einer Radioansprache in den USA über seinen Besuch Ernst Thälmanns im Gefängnis berichtete. Der Kommunistenführer sei wohlauf und auch der Judenboykott verlaufe in bester Ordnung. „Mit Gott zu neuer Zukunft!“ Das von Dibelius am Frühlingstag einer neuen Zeit am 21. März in St. Nikolai gepredigte Losungswort hat nichts an seiner Strahlkraft eingebüßt. Noch heute verwenden es Protestanten in leitender Funktion, um die Bestimmung der Garnisonkirche in religiöse Worte zu kleiden.
Ein Wunderwerk deutscher Baukunst
Ist es wirklich so leicht, aus einer Kriegskirche, die nie etwas anderes war als eine Kriegskirche, eine Friedenskirche zu machen? Die Antwort, die Bischof Stäblein bei der Turmeröffnung gab, lautete „Yes, we can.“ Was dafür benötigt wird, ist das richtige Framing und ein Friedensaltar, der den Neuanfang religiös verbürgt. Wie lässt sich aber der wichtigste Feldaltar des preußischen Heeres, von dem aus die in den Krieg ziehenden Soldaten gesegnet wurden und vor dem der Kaiser am 9. August 1914 im Potsdamer Lustgarten auf die Knie fiel, in einen Friedensaltar verwandeln? Auch das geht relativ einfach. Man muss sich nur die Replik eines Nagelkreuzes aus der zerstörten Kathedrale in Coventry auf den Altar stellen, um damit der Wandlung vom Bösen zum Guten sichtbaren Ausdruck zu verleihen. In Wirklichkeit ist die Idee einer Friedensgarnisonkirche ganz und gar unmöglich und ein reines Phantasiegebilde. Wie will man auch den Symbolgehalt eines Bauwerks für sich vereinnahmen und gleichzeitig das, was sein inneres Wesen ausmacht, für etwas Falsches und Schlechtes erklären? Mit logischer Vernunft kommt man hier nicht weiter. Von daher ist es berechtigt, in der Garnisonkirche ein Wunderwerk deutscher Baukunst zu sehen. Wie durch Zauberhand wird aus dem religiösen Epizentrum der kriegerischen Expansion Deutschlands ein Ort des Friedens und der Völkerverständigung.
Wunder gibt es immer wieder heißt es in einem bekannten Schlager. Doch sie geschehen nicht einfach nur so. Der französische Historiker Marc Bloch wies in einem bahnbrechenden Werk über die Wundertätigkeit mittelalterlicher Könige nach, dass dafür ein geeignetes Setting benötigt wird. Um auf Nummer sicher gehen, muss dem Wunder mit begleitenden Maßnahmen auf die Sprünge geholfen werden. Die Finanzierung der Garnisonkirche hat allerdings weniger mit einem richtigen Wunder zu tun als mit einer trickreichen Konstruktion, die der Illusionskunst eines Bühnenmagiers ähnelt. Denn das Bauprojekt hätte niemals in Angriff genommen und dann über den Point of no Return hinweggebracht werden können, wenn die Öffentlichkeit nicht über die Absicht belogen worden wäre, dem Staat die Zeche aufzubürden. Zudem hat man den privaten Spendern weisgemacht, sie würden den Bau eines Gotteshauses unterstützen. Herausgekommen ist stattdessen ein „kopfloser“ Aussichtsturm, den man beim besten Willen nicht mit einer Kirche verwechseln kann.
Je lauter die Befürworter der Garnisonkirche in das Friedenshorn stoßen, desto verdächtiger wird das Projekt einer Militärkirche, die sich angeblich nur dem Grundsatz „Si vis pacem para pacem.“ verpflichtet weiß. Weil alle Kriege mit dem Argument des Friedens geführt werden, besagt es wenig, Wörter wie Frieden und Versöhnung in den Mund zu nehmen. Wer soll überhaupt mit wem versöhnt werden? Die Deutschen können schlecht sagen, dass der letzte Krieg nun schon so lange her sei und dass sie es jetzt an der Zeit fänden, sich mit denen auszusöhnen, deren Länder von der Wehrmacht mit dem Geist von Potsdam bekannt gemacht worden waren. Offensichtlich geht es um etwas anderes, nämlich um die Aussöhnung mit sich selbst. Mit hängenden Schultern und einem schlechten Gewissen seien die großen Herausforderungen, denen sich das wiedervereinigte Deutschland ausgesetzt sieht, nicht zu bewältigen, am wenigsten die militärischen. Die daraus geborene Idee einer Friedensgarnisonkirche widerspricht nun aber nicht nur dem logischen Denken, sondern auch der historischen Wahrheit. Ein Nagelkreuz aus der von den Deutschen zusammengeschossenen Kathedrale in Coventry auf den Feldaltar der preußischen Armee zu stellen, um sich mit dem Tausch des liturgischen Geräts gewissermaßen selbst zu vergeben, hat für einen Außenstehenden etwas Abstoßendes und zutiefst Unmoralisches. Die Kirche der Täter, die sich mit der Kirche der Opfer versöhnt? Paul Oestreicher, der das Nagelkreuz 2004 aus Coventry nach Potsdam brachte, hatte seinen „Erfahrungen eines kämpferischen Pazifisten“ nicht umsonst den richtungsweisenden Titel „Aufs Kreuz gelegt.“ gegeben.
Als wäre diese Art der Selbstsalvierung nicht schon schlimm genug. Sich auch noch ungefragt der Mithilfe des Judentum zu bedienen, schlägt dem Fass den Boden aus. Den Wiederaufbau der Garnisonkirche mit dem Wiederaufbau der 1938 in Potsdam zerstörten Synagoge in Beziehung zu setzen, ist ebenso abgeschmackt wie der Vergleich mit einem jüdischen Bethaus. Christian Stäblein verfiel bei seiner Ansprache am 22. August zudem ins Hebraisieren, um seinen Worten größere Authentizität zu verleihen. Jüdische Gedichte, ein jüdischer Segen, jüdische Lieder und dann auch noch Yerushalayim Shel Zahav („Jerusalem aus Gold“) intonieren. Selbst wenn man von der chamäleonartigen Anpassungsfähigkeit des Protestantismus einiges gewohnt ist, stockt einem bei diesem Lied der Atem. Israelische Fallschirmjäger haben mit ihm während des Sechstagekriegs den Sieg über die Araber und die Einnahme Ost-Jerusalems besungen. Was soll mit dieser Referenz in einer deutschen Garnisonkirche zum Ausdruck gebracht werden? Mit welch abgefeimter Choreographie der Festakt am 22. August begangen wurde, sieht man auch daran, dass Olaf Scholz „zufälligerweise“ am gleichen Tag dem Synagogenzentrum seinen Antrittsbesuch abstattete. Nie hatte der Bundeskanzler Zeit gehabt. Nun aber ging er mit seinen Bewachern zu Fuß die 300 Meter von seinem Wohnsitz im Palazzo Pompeji hinüber, um der Angst vor dem militärischen Wiedererstarken Deutschlands mit Pressefotos aus einer Synagoge entgegenzuwirken. Schamloser geht es nicht.
Am 4. Juli hielt Frank-Walter Steinmeier die Festrede bei der Eröffnung des Synagogenzentrums und am 22. August die bei der des Garnisonkirchenturms. In der Neuen Synagoge sprach er von einem Geschenk für uns alle und sagte wörtlich: „Heute beginnt hier im Herzen Potsdams etwas Neues – und es schließt sich zugleich ein Kreis.“ Allein für sich genommen ein schöner Satz. Stellt man beide Ansprachen jedoch nebeneinander und achtet auf die Parallelität der Gedankenführung, kommt einem bei dem Versuch, die Garnisonkirche wiederzubeleben („ein guter Anfang auf altem Grund“), das kalte Grausen.
Die Allianz aus Kirche, Politik und Militär
Warum verhält sich ausgerechnet die SPD so wohlwollend dem religiösen Zentralbau der Hohenzollernmonarchie gegenüber? Niemand bekam mehr und härtere Schläge des preußischen Rohrstocks ab als ihre Mitglieder und Repräsentanten. Ein Grund für die sozialdemokratische Verklärung Preußens hat sicher mit fehlendem Geschichtsbewusstsein zu tun, das zur weltanschaulichen Orientierungslosigkeit führen muss, wenn es ein bestimmtes Maß übersteigt. Weiß man nicht, woher man kommt, weiß man auch nicht, wohin man will. Trotzdem befremdet es einen, dass Politiker einer Arbeiterpartei solche Sympathien für Preußens Glanz und Gloria hegen. Man muss wohl zu einem psychologischen Erklärungsansatz greifen, um zu verstehen, warum sich „Arbeiterführer“, die das Vakuum der inhaltlichen Beliebigkeit und die Tristesse einer ins Bodenlose absinkenden Zustimmungsrate drückt, vom Prunk und Pomp der Preußenkönige angezogen fühlen. Dass gerade die Vertreter des rechten Parteiflügels darauf aus sind, den Verlust ihrer geistigen Mitte mit der Religion und einer Friedensgarnisonkirche als Sehnsuchtsort zu kompensieren, kommt nicht von ungefähr. Schon immer hatten sie einen Hang zum Nationalen und Militärischen. Deswegen ist es alles andere als ein Zufall, dass von ihnen nicht nur der Wiederaufbau der Garnisonkirche, sondern auch die Aufstockung des Verteidigungsetats um einen dreistelligen Milliardenbetrag befürwortet wird. Auf zu neuer Höhe lautet in beiden Fällen die aus der preußischen Geschichte hinlänglich bekannte Devise.
Wer sich den Festakt zur Turmeröffnung online ansah, konnte Frank-Walter Steinmeier in feierlich gedämpftem Tonfall sagen hören „Lieber Wolfgang, ohne Dich wären wir heute nicht hier.“ Das von Deutschlands bekanntestem Calvinisten (so die Herder Korrespondenz über Steinmeier) an Wolfgang Huber, den früheren Ratsvorsitzenden der EKD und Altbischof einer unierten Landeskirche gerichtete Du bringt ein kameradschaftliches Miteinander zwischen Politik und Religion zum Ausdruck, auf dessen Grundlage die Pläne zum Wiederaufbau der Garnisonkirche geschmiedet wurden. Vor allem auf Drängen Hubers, der selbst zwei Mal für die SPD als Bundespräsident im Gespräch war, hatte Steinmeier die Schirmherrschaft übernommen. Um den Eindruck eines Klüngels zu vermeiden, hielt es das Bundespräsidialamt für angebracht, Steinmeiers Worte anders, man könnte auch sagen verfälschend, zu zitieren. Denn in der publizierten Fassung der Ansprache heißt es: „Lieber Wolfgang Huber, ohne Sie wären wir heute nicht hier.“ Es wurde also die Diskursebene gewechselt, um bei Außenstehenden den Eindruck der Überparteilichkeit zu erwecken. Egal ob Du oder Sie. In Huber den Spiritus rector des Unternehmens zu sehen, ist in jedem Fall richtig. Die Fähigkeit Hubers, hinter den Kulissen die Strippen zu ziehen, macht seinem Ruf als „Dibelius redivivus“ alle Ehre.
Auf der anderen Seite trägt es zur Politikverdrossenheit bei, wenn in einer Demokratie die Regierten den Eindruck gewinnen, dass sich die Regierenden mit den einflussreichen Kräften des Landes zusammentun, um gemeinsame Interessen durchzusetzen. Unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten muss sich ein solches Obrigkeitsverständnis verheerend auswirken. Nicht ohne Grund wenden sich immer mehr Menschen von der SPD ab und kehren der Kirche den Rücken. Vor allem im Osten der Republik erlebt Deutschland gerade sein blaues Wunder, das mit völkischen Slogans gegen die da oben durchsetzt ist. Und auch im Westen steigt der Zuspruch, den die AfD erfährt. Muss man sich darüber wundern? Nein, man hätte es wissen können.
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