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Im Streit um die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern ist ein bisher unbekanntes Historiker-Gutachten aufgetaucht. Kronprinz Wilhelm, heißt es darin, habe Hitler 1932/33 nicht unterstützt, sondern versucht, ihn zu verhindern. Ist das plausibel?
Seit Jahren bemüht sich das Haus Hohenzollern um eine Untermauerung der These, Wilhelm Prinz von Preußen habe dem NS-Regime keinen Vorschub geleistet. Die deutsche Geschichte steht dabei gleichsam vor Gericht: Nur wenn als erwiesen gelten kann, dass die Familie den Nationalsozialismus nicht maßgeblich befördert hat, besteht für die Hohenzollern Aussicht auf Entschädigung für die nach 1945 erlittenen Enteignungen.
Zwei Gutachten zur Stützung dieser These liegen bislang vor; sie stammen von renommierten Historikern. Der eine ist, wie seit langer Zeit bekannt, Christopher Clark (Die Schlafwandler), Regius Professor of History an der University of Cambridge. Der andere ist, wie erst jetzt öffentlich wurde, Wolfram Pyta, Professor an der Universität Stuttgart, ein angesehener Experte für die Geschichte der Weimarer Republik. Unterstützt wurde Pyta bei der Arbeit an seinem im Juni 2016 fertiggestellten Gutachten durch den damaligen Doktoranden Rainer Orth, der mittlerweile durch eine Studie über das Vizekanzleramt unter Franz von Papen als vorzüglicher Kenner der Zeit ausgewiesen ist. Die Studie von Pyta und Orth, in der ein bis zwei Jahre Arbeit und der Beitrag diverser Hilfskräfte stecken dürften, übertrifft mit 167 Seiten und 312 Fußnoten an Umfang und Aufwand alle vorherigen Gutachten bei Weitem. Der Text scheint zwei Ziele zu verfolgen: die Distanz des deutschen Kronprinzen zum Nationalsozialismus zu belegen – und die im Jahr 2014 erstellten Gutachten der beiden Autoren dieses Beitrags zu widerlegen.
Pyta und Orth präsentieren dazu eine Vielzahl neuer Quellen. Und sie können in einer Reihe von Details Korrekturen und Präzisierungen der früheren Gutachten vornehmen. Diese sind nicht unerheblich – ob sie allerdings eine komplette Umdeutung erlauben, ist fraglich.
Gemeinsam ist den nunmehr vier vorliegenden Spezialstudien, dass sie wie Samisdat kursieren, als geleakte Geheimdokumente, die Teil einer geheim geführten Historikerdebatte sind, in der historische Expertise seit Jahren der Fachkritik entzogen und – juristisch gepanzert – gegen den Blick der Öffentlichkeit abgeschirmt bleibt. Dabei dreht sich der Streit um entscheidende Fragen der deutschen Geschichte: Aus der ungewohnten Perspektive des deutschen Hochadels wird darüber debattiert, wie der NS-Diktatur zwischen 1932 und 1934 der Weg geebnet wurde und welche Rolle die alten Eliten bei der Machtübertragung an Hitler gespielt haben. Themen, die seit mehr als 60 Jahren in jedem einschlägigen Proseminar behandelt werden – was nicht bedeutet, dass sie geklärt oder gegen Umdeutungen immun wären.
Da grundlegende Fragen berührt sind, sollen die Thesen Wolfram Pytas und Rainer Orths hier in einem ersten Anlauf diskutiert werden. Den Anspruch, dem Gutachten detailliert entgegenzutreten, kann diese kurzfristig entstandene Replik nicht erheben. Dies wird an anderer Stelle geschehen. Bemerkenswert ist zunächst, wie fundamental die beiden Gutachten, welche die Position der Hohenzollern stützen, einander widersprechen. Pyta und Orth behaupten, der Kronprinz sei an der Seite des Reichswehrgenerals und letzten Kanzlers der Weimarer Republik Kurt von Schleicher ein politischer Akteur ersten Ranges gewesen. Dies annulliert das ältere Kernargument Christopher Clarks, der Kronprinz sei eine »Randfigur « geblieben und überdies in der Öffentlichkeit politisch kaum ernst genommen worden – juristisch das bislang beste Pferd im Stall der Hohenzollern. Das Gutachten Pyta/Orth führt den Kronprinzen nun als Schlüsselfigur in die Zeitgeschichte ein, die an Schleichers Seite gegen Hitler agiert habe.
Die Autoren präsentieren zu diesem Zweck die aus der Forschung bekannten Bemühungen Schleichers und seiner Berater, eine antiparlamentarische Lösung zu finden, die es ermöglicht hätte, Hitlers Machtansprüche zu beschränken oder durch eine Spaltung der NSDAP neue Formen der Kooperation zu erproben – mit Gregor Strasser als Zentralfigur der »Gemäßigten« in der NSDAP. Auf Grundlage neuer Quellenfunde betonen sie dabei die Rolle des Kronprinzen als Verbindungsmann zwischen verschiedenen Gruppen im rechten Milieu und porträtieren ihn als aussichtsreichen Sammelkandidaten für das Amt des Reichspräsidenten und möglichen Reichsverweser. Die Trias Schleicher/Strasser/Kronprinz, lautet das Argument, habe sich mit vereinten Kräften Hitler in den Weg stellen wollen.
Dieser Befund ist erstaunlich und überrascht auch mit Blick auf frühere Publikationen der beiden Autoren: In keiner von Pytas thematisch verwandten Arbeiten aus den vergangenen 20 Jahren tritt der Kronprinz in solcher Weise in Erscheinung. In Rainer Orths Studie über den Kreis um Franz von Papen wird er im Haupttext an gerade einmal vier Stellen erwähnt (auf 1118 Seiten). Wolfram Pytas ebenso umfangreiche Hindenburg-Biografie von 2007 lässt den Kronprinzen auf etwa zehn relevanten Seiten als politischen Akteur hervortreten. Hier wie dort erscheint er nicht als enger Partner Schleichers, geschweige denn als Gegner Hitlers. Im Gegenteil: Überzeugend schildert Pyta den Kronprinzen als Jongleur mit diversen Optionen im Milieu der antidemokratischen Rechten, der sich zu jeder Zeit Bündnisse mit dem Nationalsozialismus offenhielt.
In diesem Zusammenhang hält Pyta auch fest, was im Gutachten in die Bedeutungslosigkeit sinkt: den im März 1932 vereinbarten Plan einer Machtteilung zwischen Hitler und dem Kronprinzen, in dem Hitler als Kanzler, der Kronprinz als Reichspräsident vorgesehen war. Als dieser Plan am Einspruch Wilhelms II. scheiterte, publizierte der Prinz im April 1932 einen Wahlaufruf für Hitler. Im Anschluss eilte er nach Berlin, um Hermann Göring in seinen Bemühungen zu unterstützen, das Verhältnis zwischen NSDAP und Reichswehr zu verbessern.
Zutreffend sprach Pyta vor mehr als zehn Jahren von einer »Allianz« und »Zweckgemeinschaft« zwischen Hitler und dem Prinzen. Auch die »doppelgleisige « Bewegung Wilhelms zwischen seinen Diensten für Hitler und der erhofften Rolle als Reichsverweser findet sich hier noch klar beschrieben. Das Gutachten hingegen verwendet beachtlich viel Mühe darauf, Ambivalenzen zu tilgen. Entsprechend spielen die Autoren den Wahlaufruf von 1932 herunter, den der Kronprinz selbst überaus wichtig nahm: Er brüstete sich, Hitler damit zwei Millionen Wähler zugeführt zu haben. Die Geschichtswissenschaft hat keine Mittel, um die genaue Wirkung öffentlicher Akte zu berechnen.
Der Tatbestand selbst aber lässt sich nicht aus der Welt schreiben: Der Prätendent auf den preußischen und deutschen Thron stellte sich in einer Wahlempfehlung gegen den Reichspräsidenten und ergriff für Hitler Partei. Ob sich Historiker und Richter für die These erwärmen werden, das öffentliche Werben des Thronfolgers für Hitler sei im adlig-bürgerlichen Milieu wirkungslos verpufft? Zudem ist fraglich, ob Prinz Wilhelm fest zu Schleichers Plänen stand oder ob er vielmehr verschiedene Wege testete, sich ins Spiel zu bringen, darunter stets auch der einer engen Kollaboration mit der NS-Bewegung. Der Nachlass von Schleichers Mitarbeiter Oberst Bredow im Militärarchiv Freiburg verweist jedenfalls darauf, dass der Kronprinz viele politische »Freunde« hatte und seinen »Freund« Schleicher fallen ließ, nachdem diesem die Hebel der Macht entglitten waren. Vor allem aber ist Schleichers Rolle selbst zu diskutieren: Sind er und seine Berater im Kern als mächtige Zerstörer der Republik oder als Gegner Hitlers zu bewerten?
Fest steht: Keine der von Wolfram Pyta und Rainer Orth ventilierten Strategien, Hitler einzuhegen, wäre ohne dominierenden Einfluss der Nationalsozialisten ausgekommen. Und keine war sonderlich aussichtsreich: Eine »Restauration« hätte die Zeit nicht einfach zurückdrehen können, die Möglichkeit einer reinen Militärdiktatur wurde in der Reichswehr selbst bezweifelt, und die sogenannte Querfront hätte einer Kooperation bedurft, für die, wie sich zeigen sollte, die Gewerkschaften letztlich so wenig zu gewinnen waren wie Gregor Strasser.
Um die Chancen einer »Querfront«, der Spaltung der NSDAP, geführt von Schleicher und Strasser, zu betonen, beruft sich das Gutachten auf eine Aussage Heinrich August Winklers. Allerdings versäumen die Autoren mitzuteilen, dass Winkler gleich im nächsten Satz der zitierten Passage auf die Chancenlosigkeit dieser Konstruktion abhebt. Am Ende unterschied sich Schleicher, der Hitler immer wieder Angebote gemacht hatte, darunter das Vizekanzleramt, zwar deutlich, aber nicht fundamental von anderen Akteuren, die eine »Einrahmung« Hitlers forderten. Wie so oft ist es der Ausschnitt, der über die Aussage des Bildes entscheidet: Lässt man die Ereignisse 1932 beginnen und betrachtet die Republik, der Perspektive von Carl Schmitts Tagebuch folgend, durch die Augen ihrer Feinde, ergibt sich in der Tat ein Polaroid, auf dem Schleicher als »Hitler-Gegner« erscheint.
Erzählt man die Geschichte der Weimarer Republik von ihrem Anfang her und nimmt man die Perspektive anderer, der Demokratie näherstehender Juristen wie Arnold Brecht, Hans Kelsen, Hans Schäffer und Hans Nawiasky ein, verändert sich das Bild: Die faktische »Alternativlosigkeit« des Jahres 1932, zeigt sich dann, hatte eine lange Vorgeschichte, wobei die Akteure des letzten Aktes den »Notstand« selbst vorbereitet und erschaffen hatten – mit dem glücklosen Intriganten Schleicher an der Spitze. In einer Festschrift für den großen Weimar-Historiker Eberhard Kolb hielt 1998 einer von Kolbs Schülern über Kurt von Schleicher fest, dieser sei der »Totengräber« der parlamentarischen Demokratie gewesen und habe sich um einen Ausweg »aus der von ihm selbst herbeigeführten Staatskrise« bemüht. Der Autor dieser Zeilen ist Wolfram Pyta. Seinem Urteil ist beizupflichten. Auch hinsichtlich der vagen Pläne für die Wiedererrichtung der Monarchie ist Skepsis geboten. Der antisemitische Publizist Ernst Graf zu Reventlow merkte 1926 treffend an, eine Monarchie lasse sich nicht wiederaufrichten wie ein umgefallener Stuhl. Doch genau dies wird im Gutachten suggeriert.
Unklar bleibt zudem, aus welchen Bestandteilen das zerbrochene Kaiserreich überhaupt hätte rekonstruiert werden können. Der preußische Monarchismus führte seit 1918 ein Schattendasein: Kaiser und Kronprinz waren durch ihre Flucht bis tief in den preußischen Adel hinein als Deserteure diskreditiert. Im Haus Hohenzollern waren Mitglieder dreier verschiedener Generationen als Thronfolger im Gespräch – das legitimistische Prinzip war zerbrochen. Für eine Restauration der Bundesfürsten gab es keinerlei Konzept. Außerdem sperrte sich Hindenburg gegen monarchistische Erwägungen. Alle diese Aspekte sind auch in Wolfram Pytas älteren Arbeiten ausgeführt. Vollkommen in die Irre führen die Vergleiche mit nordeuropäischen Monarchien und der Hinweis auf die Kompatibilität von Monarchie und Demokratie. Denn in Deutschland gab es keinen Thronfolger, der King-in-Parlament werden wollte. Leitmodell des Kronprinzen war nicht die parlamentarische Monarchie Großbritanniens, sondern die im italienischen Faschismus seit 1922 realisierte Kombination von Monarch und Führer. Die frühe enthusiastische Aufnahme des italienischen Faschismus durch den Kronprinzen ist dicht dokumentiert. Das Gutachten schweigt darüber.
Hinweise auf die Nähe des Kronprinzen zur NS-Bewegung relativieren Pyta und Orth unterdessen nach Kräften. Auf einem Höhepunkt der bürgerkriegsähnlichen Zustände und angesichts des mäandernden Terrorismus von SA-Einheiten werden im April 1932 SA und SS verboten. Der Kronprinz richtet daraufhin einen Brief an Reichswehrminister Wilhelm Groener, in dem er für die Aufhebung des Verbots plädiert. Doch Pyta und Orth wissen selbst dieses Schreiben umzudeuten. Es sei von Schleicher eingeflüstert und Teil eines größeren Plans gewesen: Existierte die SA weiterhin und mussten höhere SA-Führer weiter besoldet werden, würde dies die Finanzkrise der NSDAP verschärfen und die Partei in den Zusammenbruch treiben. Aus der Werbung für die fast 500.000 Mann starke Privatarmee wird so ein Akt des geheimen Widerstands. Diese Volte lässt sich als analytischer Höhepunkt des gesamten Gutachtens betrachten. Bemerkenswert auch, dass aus dem Schreiben nicht zitiert wird: In seinem Brief verwies der Kronprinz auf »das wunderbare Menschenmaterial, das in der SA und SS vereinigt ist und das dort eine wertvolle Erziehung genießt«; etwas später wollte er auch »mal eine Anzahl Kommunisten aufs Pflaster gelegt« sehen.
Was immer gegen den Kronprinzen sprechen könnte, die beiden Autoren haben eine Antwort: Seine öffentliche Verteidigung der antijüdischen Politik nach 1933? Nicht ernst zu nehmen. Die Serie unterwürfiger Telegramme an Hitler? Bloße Camouflage. Die ehrenden Gesten auf einer Beerdigungsfeier für einen SA-Führer und einen Polizeioffizier? Nur Letzterem gewidmet. Die Teilnahme am »Tag von Potsdam«? Kaum sichtbar. In die SA geriet der Prinz aus Freude am Autofahren, im rechtsradikalen Stahlhelm überzeugte die »gemütliche Vereinsmeierei«, finanzielle Unterstützung für die SA habe Arrangements für einen »Bierabend« oder eine Tankfüllung für seine SA-Staffel nicht überstiegen. Was der Anwärter auf den deutschen Kaiserthron auf einem Bierabend der SA zu suchen hat, bleibt offen.
Die auch in die Medien getragene Behauptung, Mitglieder der Familie hätten dem Widerstand des 20. Juli nahegestanden, wird unterdessen mit keinem Wort erwähnt. Möglicherweise hat die seit den Fünfzigerjahren bekannte Weisung des Kronprinzen an seinen Sohn, sich vom Widerstand fernzuhalten, selbst bei Pyta und Orth dazu geführt, auf dieses Argument zu verzichten. Ersetzt wird es im Text durch eine Konstruktion, die zeigen soll, dass der Kronprinz jener kleinen Gruppe von Konservativen nahestand, die, zwischen Kollaboration und Widerstand, während der Mordaktionen des 30. Juni 1934 ihr Leben verloren, als Hitler die SA-Führung um Ernst Röhm ausschalten ließ, die er verdächtigte, einen Putsch zu planen.
Als Methode dient dazu die älteste Technik konservativer Legendenproduktion nach 1945: Vereinzelte Briefe oder Treffen werden zu Belegen für die vermeintliche Widerständigkeit des Kronprinzen emporgeschrieben. Doch um dessen flüchtige Kontakte zu Mitgliedern der deutschen Rechten zu gewichten, die 1934 umgebracht wurden, sollte man diese mit anderen »Freundschaften«, etwa der zu Hermann Göring, austarieren. Die Morde des 30. Juni trafen zudem im Kern keine gestandenen NS-Gegner, sondern ehemalige und eigensinnige Wegbegleiter. Den Kronprinzen trafen sie nicht. Originell immerhin ist Pytas und Orths Deutung: Als Widerstandsmann avant la lettre ist der Thronfolger bisher noch nicht beschrieben worden. In ihrem um historische Vollreinigung des Kronprinzen bemühten Gutachten, über dessen Auftraggeber beim Stand der Dinge nur spekuliert werden kann, taucht er nun in just dieser Rolle auf. Ob dies einem genaueren, prüfenden Blick der Geschichtswissenschaft standhält, wird sich zeigen.
Peter Brandt ist Professor em. für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Stephan Malinowski lehrt Modern European History an der University of Edinburgh und ist Experte für die deutsche Adelsgeschichte. Beide haben 2014 ein Gutachten zum Hohenzollern-Rechtsstreit vorgelegt.
Zuerst erschienen in: DIE ZEIT vom 14. Nov. 2019; Seite 19
Download der vier Gutachten:
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