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In dieser Kolumne bespreche ich normalerweise argumentationslogische Fehlschlüsse, wie sie in der logischen Tradition bis heute überliefert werden. Dieses Mal möchte ich mich mit einer Strategie beschäftigen, die eine Besonderheit aufweist: Sie basiert zwar auf einem fehlschlüssigen Schema (mehr dazu unten). Aber genau dieses Schema sorgt dafür, dass diese Strategie nur sehr selten als problematisch erscheint. Sie wird dadurch zu einer der gebräuchlichsten Weisen, sich mit einem Fehlschluss ins Recht zu setzen – jeder von uns hat sie schon einmal, in der einen oder anderen Weise, angewendet.
Der Begriff ‚Selbst-Viktimisierung‘ ist kein feststehender Terminus. Das zugrundeliegende logische Verhältnis bzw. seine verschiedenen Aspekte sind unter vielen Namen bekannt: ‚Victim playing‘ und ‚Victim blaming‘ (‚das Opfer spielen‘ und ‚das Opfer beschuldigen‘), ‚Opfermentalität‘ und ‚Täter-Opfer-Umkehrung‘. Ich wähle hier den reflexiven Begriff der ‚Selbst-Viktimisierung‘, der ‚Selbstzuschreibung des Opferstatus‘, weil sich aus dieser Selbstzuschreibung und der zugehörigen Fremdzuschreibung – jedes Opfer braucht einen Täter – ein Verständnis dafür gewinnen lässt, wie die verschiedenen Aspekte zusammenarbeiten.
Die Selbst-Viktimisierung funktioniert scheinbar ganz einfach: Jemand behauptet von sich Opfer eines bestimmten Täters zu sein. Diese Behauptung kann direkt oder indirekt erfolgen: indem man sich selbst als Opfer eines Täters bezeichnet oder indem man sich als Opfer eines Täters inszeniert. Ebenso kann der Täter direkt oder indirekt angesprochen werden: als jemand, der direkt verantwortlich ist, der jemanden also in der Tat zum Opfer gemacht hat. Oder als jemand, der für Umstände, Sachverhalte, Strukturen etc. verantwortlich ist oder sein soll, die einen selbst zum Opfer machen.
Doch eine Tat und sich als Opfer dieser Tat zu beklagen, ist noch keine Selbst-Viktimisierung. Denn dann wäre jede Klage problematisch – auch solche über Taten, die tatsächlich stattgefunden haben und über Täter, die tatsächlich eine Gewalttat begangen haben. Eine Selbst-Viktimisierung – als Strategie, nicht als Klage im Modus einer Behauptung – liegt erst dann vor, wenn eine Tat tatsächlich gar nicht stattgefunden hat, wenn der Andere, der als Täter hingestellt wird, in Wirklichkeit gar kein Täter ist.
Umgekehrt ausgedrückt: Eine Selbst-Viktimisierung liegt erst dann vor, wenn in einem dogmatischen Fehlschluss gesetzt wird, dass der andere der Täter und man selbst sein Opfer ist, obwohl dafür faktisch kein einziger Nachweis oder Beweis vorliegt. Dieses kleine Detail – die Begründung, der Nachweis, der Beweis – entscheidet über eine bloße und vollkommen unproblematische Behauptung einer Tat und der zugehörigen Einnahme der Rolle des Opfers gemäß dieser Behauptung und dem Verdacht einer Selbst-Viktimisierung als Strategie.
Ich schreibe ‚Verdacht‘ – weil es in bestimmten Kontexten immer noch sein kann, dass ein Täter jeden Nachweis einer Tat getilgt hat, dass dem Opfer also nur noch das reine Behaupten zur Verfügung steht, um etwas, das tatsächlich stattgefunden hat, zu beklagen. In (auch potentiell) juristisch beurteilbaren Fällen bleibt die Annahme einer Selbst-Viktimisierung also – bis zum Nachweis der Tat bzw. einer bloßen Strategie – problematisch. Sie kann nur fallweise entschieden werden – und beschäftigt oft viele Menschen über sehr lange Zeit.
Der Verdacht erhärtet sich allerdings in Kontexten zur Gewissheit, in denen sich Teilnehmer in der Diskussion selbst zum Opfer erklären, ohne diesen Status in irgendeiner Weise begründen oder nachweisen zu können. Die Selbst-Viktimisierung entfaltet dabei eine fehlschlüssige Struktur, die den Anwender selbst in die Überzeugung hineintäuscht, Opfer einer Tat zu sein. Verantwortlich für diese Täuschung ist der dogmatische Fehlschluss:
Wer sich selbst unbegründet und ohne einen Nachweis zu geben als Opfer eines Täters inszeniert, der muss dem vermeintlichen Täter diesen Status aufzwingen. Durch die simple Verschiebung von einer Begründung erfordernden Behauptung hin zur dogmatischen Setzung beansprucht das vermeintliche Opfer, zugleich für den vermeintlichen Täter, an dessen Stelle, zu sprechen. Der Täter ist Täter – Punkt. Nur so kann die Selbst-Viktimisierung ihre Wirkung entfalten.
Das vermeintliche Opfer ist tatsächlich selber der Täter der Gewalthandlung
Die Crux an dieser Strategie liegt darin, dass sie dogmatisch inhaltlich zwei Positionen besetzt: diejenige des Opfers und diejenige des Täters. Operativ – also mit Blick auf das tatsächliche Sprechhandeln – ist aber genau dieser Dogmatismus selbst eine Form von Gewalt. Das vermeintliche Opfer ist tatsächlich selber der Täter dieser Gewalthandlung – der vermeintliche Täter ist tatsächlich das Opfer dieser Handlung.
Wenn Alfred sich selbst dogmatisch zum Opfer von Bert macht, – „Bert will mich die ganze Zeit unterdrücken!“ – dann ist Bert tatsächlich das Opfer von Alfred. Nur ist das für Alfred unsichtbar geworden. Alfred kann seinen eigenen Täterstatus, dass er Bert seine Sicht der Dinge ohne Rechtfertigung aufzwingt, nicht mehr sehen – weil er sich selbst dogmatisch zum Opfer und Bert zum Täter erklärt hat. Was Alfred einklagt, tut er selbst, in dieser Klage.
Ähnlich wie bei Tu-quoque-Argumenten oder dem Schiedsrichter-Fehlschluss muss man hier allerdings genau den Pfad im Auge behalten, den die Diskussion genommen hat. Denn Alfred, einmal mit dem Vorwurf der Selbst-Viktimisierung konfrontiert, kann ihn natürlich auf verschiedene Weisen kontern: Er könnte den Vorwurf von Bert als neuerlichen Fall der vorher schon nicht nachgewiesenen Tat inszenieren und damit versuchen, die Glaubwürdigkeit seiner Behauptung durch ständige Wiederholung (‚ad nauseam‘, ‚bis zur Übelkeit‘) zu erhöhen.
Ein typisches Beispiel dafür sind Diskursstrategien, wie sie in den letzten drei Jahren vor allem von der AfD etabliert wurden: Man inszeniert sich als Opfer eines ‚Tugendterrors‘, einer ‚Mainstream-Meinung‘, die angeblich die eigene Meinung ‚unterdrückt‘; als Gemeinschaft von Opfern von ‚Sozialexperimenten‘, ‚Gender-Wahnsinn‘ oder eines angeblichen ‚Bevölkerungsaustauschs‘. Wird man darauf hingewiesen, dass diese Sichtweisen Strategien sind, um sich selbst unbegründet ins Recht zu setzen, wird dieser Hinweis als Beleg dafür genommen, dass die AfD von ‚den Medien heruntergeschrieben‘ wird. Die Selbst-Viktimisierung – sie sorgt, wie der Bestätigungsfehler, für ständigen Nachschub.
Alfred, der sich selbst als Opfer inszeniert, könnte aber auch den Vorwurf umkehren. Er könnte Bert eine Selbst-Viktimisierung gegenüber angeblich legitimen Vorwürfen unterstellen: „Bert stellt sich jetzt als Opfer dar, dabei bin ich doch das eigentliche Opfer!“ Das wäre eine tu-quoque-Reaktion und setzt freilich voraus, dass die Legitimität der ursprünglichen Selbst-Viktimisierung bereits nachgewiesen ist. Und das führt zurück zu der Frage, wie diese Behauptung begründet oder nachgewiesen wird.
Die Selbst-Viktimisierung kann – von diesem Schema ausgehend – ganz verschiedene Formen annehmen und ganz verschiedene Funktionen erfüllen. In Kontexten (z. B. historischen Kontexten), in denen aus Laiensicht unentscheidbar erscheint, wer ‚angefangen hat‘, dient sie häufig zur Neuzuschreibung einer historischen Schuldfrage. Typisch ist etwa die Täter-Opfer-Umkehr, nicht die Nazis, sondern die Alliierten hätten den eigentlichen Völkermord (an den Deutschen) begangen. Hinter den Alliierten stehen natürlich meistens Finanziers der US-amerikanischen ‚Ostküste‘ – ein kaum verborgener Ersatzagent für die jüdischen Weltverschwörer der Nationalsozialisten.
Wer die Opferhaltung inflationär und ohne gute Gründe einsetzt, kann den tatsächlichen Opfern schaden
Sie kann aber auch die Form einer ständigen Opferhaltung annehmen, die entweder zu völliger Stagnation oder, umgekehrt, zu ständigem Aufbegehren gegen unterstellte Unterdrücker führt. Eine solche von vornherein in Geltung gesetzte Opferhaltung, ohne im behaupteten Sinn Opfer zu sein, ist bequem – denn sie suggeriert ihren Anwendern, stets im Recht zu sein. So kann, wer die Opferhaltung inflationär und ohne gute Gründe einsetzt, um sich gegen Kritik zu immunisieren, den tatsächlichen Opfern schaden, weil deren Klage dadurch unglaubwürdig erscheinen kann.
Eine Selbst-Viktimisierung hilft nicht nur dabei, von der eigenen Gewalt abzulenken. Sie generiert auch Aufmerksamkeit und dadurch (vermeintliche) Verbündete. Sie hilft dabei, Frustrations- und Stresserfahrungen zu bewältigen, indem der darin liegende Verantwortungsdruck an eine Täterfigur abgegeben wird. Und sie kann – fast der wichtigste Hinweis – instrumentalisiert werden, um tatsächliche Opfer oder solche, die einen eigentlich begründeten Fall behaupten, als Simulanten darzustellen und unglaubwürdig zu machen.
Genau deswegen muss man genau hinsehen, wie sich jemand als Opfer und wen derjenige als Täter behauptet. Manchmal steckt hinter einer Selbst-Viktimisierung, die maßlos übertreibt, zugleich ein wahrer Kern. Gerade populistische Redeweisen erfinden nicht geradewegs Opferhaltungen, sondern nehmen reale Verhältnisse und übersteigern sie, um sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Aus diesen Gründen gehört die Selbst-Viktimisierung zu den gebräuchlichsten, variantenreichsten und zugleich schwierigsten Strategien, sowohl was die Entlarvung als Strategie als auch was ihre Anwendung betrifft. Sie etabliert ein Schema, auf das wir oft fast automatisch reagieren, wenn wir Partei für das Opfer ergreifen – ohne vorher geprüft zu haben, ob jemand tatsächlich einen Grund hat, sich selbst als Opfer zu behaupten. Genau deswegen müssen wir verantwortungsvoll mit dem Vorwurf und dem Nachweis der Selbst-Viktimisierung umgehen. Es könnte sonst sein, dass wir selbst Opfer einer Tat werden, die zu durchschauen wir für uns selbst unsichtbar gemacht haben.
Zuerst erschienen in Hohe Luft , Philososphie Magazin, Juni 2016.
Daniel-Pascal Zorn (* 1981 in Hamburg) ist ein deutscher Philosoph und Publizist, der 2015 mit einer Arbeit zu reflexiven Figurationen unter anderem bei Heidegger und Foucault promovierte.
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