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Der Abriss der Garnisonkirche 1968 ist ein Vorgang, um den sich viele Mythen ranken (1). Oft wird behauptet, dass dieser Abriss durch Walter Ulbricht befohlen worden wäre. Ulbricht hätte während eines Potsdam-Besuches am 22. Juni 1967 mit den Worten „Das Ding muss weg!“ das Schicksal der Kirchenruine besiegelt. (2) Die Akten der staatlichen und kirchlichen Archive zeichnen allerdings ein deutlich anders Bild. Ich will Ihnen die wichtigsten Fakten in Kurzform vortragen
Nach 1945 gab es in Potsdam drei zerstörte Innenstadtkirchen: die Garnisonkirche, die Nikolaikirche und die Heiliggeistkirche. Da die Gelder und Baukapazitäten begrenzt waren, mussten Prioritäten für den Wiederaufbau gesetzt werden. Bis Anfang der sechziger Jahren verfolgten die staatlichen und kirchlichen Stellen in Potsdam gleiche Prioritätensetzungen. Oberste Priorität hatte der Wiederaufbau der Nikolaikirche. (3) Langfristig war aber auch der Wiederaufbau der Garnisonkirche und Heiliggeistkirche geplant. Ganz in diesem Sinne wurden 1963 durch den Generalkonservator der DDR, Ludwig Deiters, Sicherungsmaßnahmen an der Garnisonkirche angeordnet. (4) Diese Sicherungsmaßnahmen begannen 1965 und wurden durch das Institut für Denkmalpflege der DDR finanziert. (5)
Die Kirche in der Krise
Doch Anfang der sechziger Jahre änderte sich die baupolitische Situation grundlegend. Während dieser Zeit erfolgte ein Kurswechsel in der kirchlichen Baupolitik, weg vom Wiederaufbau zerstörter Großkirchen, hin zum Neubau von Gemeindezentren. Was waren die Hintergründe für diesen Wechsel? Anfang der sechziger Jahre steckte die evangelische Kirche in der DDR in einer schweren Krise. Die Kirche verzeichnete sinkende Mitgliederzahlen, die Zahl der Taufen und Konfirmationen ging drastisch zurück. (6) Diese Entwicklung hatte natürlich mit der Politik der DDR zu tun, aber sie wurde seitens vieler Geistlicher auch als Ausdruck einer allgemeineren Krise der Kirche gesehen. Beispielsweise schrieb Günter Jacob 1965:
„Die Schwierigkeiten, die heute mit der Frage nach der rechten Verkündigung an den säkularisierten Menschen gegeben sind, brechen sowohl im Osten wie im Westen auf. Im Osten liegen sie nur offen zutage, während sie in der westlichen Welt noch künstlich in einem Klima allgemeiner Christlichkeit eingenebelt werden können.“ (7)
Und 1967 erklärte Günter Jacob:
„daß der rapide Schwund des traditionellen kirchlichen Lebens, über den besonders in den neuen Städten der Industriegebiete eine Täuschung nicht mehr möglich ist, auch als Gericht über Versagen und Schuld der Kirche verstanden werden muß.“ (8)
Kirchliche Reformdebatten
Die Reaktion auf diese Krise war eine innerkirchliche Reformdebatte. Es entstand eine Reformbewegung, die eine grundlegende Erneuerung der Kirche zum Ziel hatte. Wichtige Protagonisten waren in Berlin-Brandenburg der schon erwähnte Günter Jacob, Generalsuperintendent in Cottbus und von 1963 bis 1966 Bischofsverwalter für den Ostteil der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Albrecht Schönherr, Generalsuperintendent in Eberswalde und ab 1967 Bischofsverwalter für den Ostteil der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, sowie Manfred Stolpe, Konsistorialrat im Evangelischen Konsistorium Berlin-Brandenburg. Daneben arbeitete Stolpe von 1963 – 1966 als persönlicher Referent von Günter Jacob und ab 1967 als persönlicher Referent von Albrecht Schönherr. In Sachsen gab es den „Arbeitskreis für neue Formen des Gemeindeaufbaus“ mit Werner Krusche, Günter Krusche, Johannes Hempel und anderen.
Diese Reformdebatte drehte sich vor allem um die Frage: Wie kann die Kirche so verändert werden, dass sie wieder attraktiver wird? Als Antworten wurden eine Reihe von Reformansätzen formuliert. Dazu gehörten: eine Demokratisierung der Kirche, der Abbau von Hierarchien und neue Formen des Gemeindelebens. Statt Predigten von oben herab sollte ein gleichberechtigter Dialog zwischen den Gemeindemitgliedern stattfinden. Dazu gehörte die Gleichberechtigung der Frau, denn bis 1962 durften Frauen keine Pfarrerinnen werden, von höheren Positionen ganz zu schweigen. Und ganz wichtig war eine verstärkte Arbeit im weltlichen Bereich, mit der auch Nichtchristen erreicht werden sollten: Dazu zählten Kulturveranstaltungen, Konzerte, Vorträge, Diskussionen, Laientheater bis hin zum Jugendtanz.
Diese Reformdebatte hatte natürlich auch Auswirkungen auf das kirchliche Bauen. Die traditionellen Großkirchen mit ihren großen Gottesdiensträumen und schlecht nutzbaren Nebenräumen wurde zunehmend abgelehnt. Als Alternative wurde ein neuer Gebäudetyp propagiert: das Gemeindezentrum. Ein Gemeindezentrum sollte kleinere, flexibel nutzbare Räume mit moderner Technik enthalten, die für die unterschiedlichsten Veranstaltungen genutzt werden konnten. Den Auftakt dieser Debatte markierte ein Vortrag von Günter Jacob auf dem Kirchenbautag in Hamburg im Juni 1961. Auf diesem erklärte er:
„Das so überkommene Gotteshaus kann, abgesehen von der augenblicklich noch vorhandenen exzeptionellen Heiligabend-Situation, infolge der skizzierten Schrumpfung und aus anderen Gründen der Abwanderung nicht mehr gefüllt werden. Die halbgefüllte oder auch fast leere Kirche löst dann deprimierende Schockwirkungen aus, sie verstärkt bei den wenigen nur das Gefühl einer Vereinzelung und Vereinsamung. (…) Es kommt hinzu, daß dieses gottesdienstliche Gebäude in seiner überlieferten Gestalt als Kultraum mit Altar, Kanzel, Taufstein und festem Gestühl keine Möglichkeiten für die Pflege des kommunikativen Lebens der Gemeindemitglieder bietet.“ (9)
Als Alternative forderte Jacob das Konzept eines Gemeindezentrums, das einen kleinen, intimen Gottesdienstraum mit weiteren Räumen für „gemeinsame Mahlzeiten, zu Arbeit und Besinnung, Gespräch und Begegnung, Studium und Entspannung, Spiel und Geselligkeit“ kombinieren sollte. (10)
Eine weitere Station war die Kirchbautagung „Gestaltwandel und gottesdienstlicher Raum“, die vom 6. – 10.Oktober 1965 in Erfurt stattfand. Hier sorgte ein Vortrag von Werner Richter vom Kirchlichen Bauamt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg für Aufsehen. Richter erklärte:
„Der Geist dieser erneuerten, oder besser der sich immer erneuernden Gemeinde muß wirksam werden zur Erneuerung des überkommenen Raumes, auf den die Gemeinde angewiesen ist (…) Die Gemeinde wird lernen müssen, den Kirchraum nicht mehr als ein erfurchteinflößendes Heiligtum zu sehen, sondern ihn zu nutzen sowohl als Herberge der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde als auch als Stätte der Begegnung untereinander. Bibelstunden und Sitzungen des GKR, fröhliche Jugendstunden, die Kaffeetafel der Frauenhilfe geben dem Kirchraum ein neues Gepräge als Gemeindezentrum, welches nicht nur der sonntäglichen Predigt des Pfarrers, sondern der lebendigen Aussprache und dem Dialog zwischen Pfarrer und Kreisen und den Gruppen untereinander dienstbar gemacht wird. Das Überkommene wird preisgegeben, um Neues an seine Stelle treten zu lassen.“ (11)
Den Höhepunkt dieser Diskussion bildete aber eine Tagung unter dem Titel „Kirchenbau in der heutigen Zeit“, die vom 22. bis 25. April 1968 in Hubertushöhe bei Storkow stattfand. Drei Impulsreferate von Günter Krusche, Werner Richter und Joachim Rogge behandelten die soziologischen, architektonischen und theologischen Voraussetzungen für eine Reform des Kirchenbaus. Vor allem Günter Krusche verlangte tiefgreifende Veränderungen:
„Die überkommenen Bauwerke wissen sich größtenteils nur dem Zweck der Anbetung bzw. der Verkündigung und Sakramentsverwaltung verpflichtet. Sie sind aber ungeeignet für die kleine Gruppe und dialogfeindlich. (…) Deshalb ist eine neue Form des Gemeindezentrums zu entwerfen. Diese muss folgenden Forderungen entsprechen: a.) Der Wille zum Aufbruch, zu weltlichem Zeugnis (Entsakralisierung), zu Dienstbereitschaft und Kontaktaufnahme sollte darin zum Ausdruck kommen. b.) Aber auch die innere Struktur des Gebäudes verlangt eine neue Gliederung: Dialogfreundlich, Ermöglichung von Partnerschaft, Heimatgefühl ohne Bevormundung, Mehrzweckgebäude mit Variationsmöglichkeiten.“
Und Werner Richter ergänzte:
„Die Kirche wird als Mehrzweckraum Ort der Begegnung der Gemeinde werden müssen. (…) Es wird notwendig, abzuwägen, wo die überkommene Substanz preiszugeben ist und wo sie zu erhalten ist zur Umdeutung und Neudeutung.“ (12)
Diese Tagung wurde sowohl unter den kirchlichen Bauexperten in der DDR als auch im Westen geradezu euphorisch kommentiert. Lothar Kallmeyer, ein westdeutscher Kirchenbauexperte, erklärte, dass solch eine Tagung im Westen nicht möglich wäre. Werner Richter kommentierte in einem Brief: „Sie können sich denken, wie stolz wir alle waren.“ (13)
Diese Reformforderungen waren aber nicht unumstritten. Ein wichtiger Gegner war Winfried Wendland, der ebenfalls im Kirchlichen Bauamt Berlin-Brandenburg beschäftigt war. Wendland hielt vom Konzept des Gemeindezentrums wenig und propagierte das Festhalten an den traditionellen Kirchbauten. Beispielsweise schrieb er 1963:
„Die Flucht in den „kleinen Raum“ ist meist der erste Schritt zur Sektiererei, nicht zur Gemeindebildung und zum Weg in die Welt.“ (14)
Auf einer Tagung in Gnadau im April 1967 erklärte er:
„Ist der Kirchenraum Mitte des Gemeindelebens? So haben wir uns zu fragen, ob er als Raum mit Altar, Taufstein und Kanzel für uns heute gültig ist, d.h. von uns und unserm Gottesdienst erfüllt wird. Wir haben uns auch zu fragen, ob er auch für die Zukunft gültig sein wird. Oder wird es besser sein, die Tür ganz zuzuschließen und mit der Gemeinde in einen Ersatzraum – etwa ins Pfarrhaus zu flüchten, die Kirche als zu monumental aufzugeben, der Lage der Kirche heute als nicht entsprechend? Viel sind heute dieser Meinung. Wir glauben, daß dies eine Flucht in ein selbst gewähltes Ghetto bedeutet, ob schon eine solche Lösung manchmal viel einfacher wäre.“ (15)
Am Ende konnte sich aber die reformorientierte Linie durchsetzen. Werner Richter wurde 1968 zum Leiter des Kirchlichen Bauamtes Berlin-Brandenburg befördert. (16) Winfried Wendland dagegen wechselte an das Kirchliche Bauamt nach Magdeburg. (17)
Diese Reformdebatte hatte ganz praktische Konsequenzen für die Baupolitik der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Der Wiederaufbau zerstörter Großkirchen wurde gestoppt, dies traf etwa auf die Marienkirche in Prenzlau oder die Nikolaikirche in Potsdam zu. (18) Für einige Kirchenruinen wurde auch der Abriss beschlossen, das galt etwa für die Luisenstädtische Kirche in Berlin oder das Schiff der Heiliggeistkirche in Potsdam. (19) Auf der anderen Seite war die Kirche nun bemüht, den Neubau von Gemeindezentren durchzusetzen.
Die Verhandlungen zwischen Kirche und Staat 1965-1966
Welche Auswirkungen hatte dieser baupolitische Kurswechsel auf das Verhältnis zum Staat? Generell kann gesagt werden, dass der neue Kurs zu massiven Konflikten mit den staatlichen Stellen, vor allem mit dem Rat des Bezirkes Potsdam, führte. Auf der einen Seite waren die staatlichen Stellen weiterhin am Wiederaufbau zerstörter Großkirchen interessiert. Vor allem der Wiederaufbau der Nikolaikirche hatte für den Rat des Bezirkes eine ganz große Priorität. Der Baustopp an der Nikolaikirche wurde daher sehr negativ gesehen. (20)
Noch größer waren aber die Konflikte beim Thema Gemeindezentren. Die Gemeindezentren waren für die staatlichen Behörden ein rotes Tuch. Der Staat war bemüht, die Kirche auf die religiöse Arbeit im engeren Sinne zu beschränken. Der ganze weltliche Bereich wurde dagegen als Domäne des Staates betrachtet, die unter Kontrolle der SED stehen sollte. Gemeindezentren, die Freiräume für unabhängige Diskussionen, Lesungen, Vorträge bieten sollten, wurden daher als Gefahr für die Herrschaft der SED betrachtet und entsprechend bekämpft. (21) Das Argument des Staates lautete meist: Die Kirche soll erst einmal ihre Ruinen wieder aufbauen, erst dann kann man über Neubauten reden. Diese Haltung wollte aber die Kirche nicht länger akzeptieren, daher drängte sie immer nachdrücklicher auf den Neubau von Gemeindezentren.
Dieser Konflikt führte schließlich zu Verhandlungen zwischen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und dem Rat des Bezirkes Potsdam zum kirchlichen Bauen, die von Anfang 1965 bis Mitte 1966 stattfanden. Die erste größere Beratung fand am 22. Februar 1965 statt. Auf dieser trug der Potsdamer Superintendent Konrad Stolte die Potsdamer Bauwünsche vor. Stolte nannte zwei Bauprojekte: ein Gemeindezentrum in der Waldstadt und ein Gemeindezentrum am Brauhausberg. Er ergänzte, dass die kirchlichen Stellen „nicht nach rückwärts, sondern nur nach vorwärts sehen“ wollten. Generalsuperintendent Horst Lahr äußerte sich noch zum Wiederaufbau der Nikolaikirche. Er erklärte:
„Eine solche Investierung könne die Kirche nicht vertreten. Berlin-Brandenburg habe vordringlichere Aufgaben.“
Die Garnisonkirche wurde nicht erwähnt. (22)
Die entscheidende Beratung fand am 18. Juni 1965 statt. Auf dieser Beratung zeigten beide Seiten Kompromissbereitschaft. Die Kirche war nunmehr bereit, den Wiederaufbau der Nikolaikirche weiterzuführen. Zur Finanzierung sollte eine große gesamtdeutsche Spendenaktion unter dem Titel „Potsdam – Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“ angestoßen werden. Der Rat des Bezirkes war bereit, den Neubau eines Gemeindezentrums in der Waldstadt zu akzeptieren. Auch über die Garnisonkirche wurde gesprochen: Fritz Zeiske, der stellvertretende Vorsitzende des Rates des Bezirkes Potsdam, erklärte, dass die Garnisonkirche im zukünftigen Potsdam keinen Platz mehr haben sollte. Der Vertreter der Kirche, Manfred Stolpe, erklärte hierzu:
„D. Jacob und Dr. Lahr haben kein besonderes Interesse an der Garnisonkirche, der sogenannte ehemalige Tag von Potsdam ist auch uns bekannt.“
Dennoch gab es auch auf dieser Beratung einen Konflikt, und dieser betraf wieder die Gemeindezentren. Manfred Stolpe forderte den Bau eines zweiten Gemeindezentrums, Fritz Zeiske verlangte dagegen größere Investitionen in die Nikolaikirche. (23)
Der Konflikt um ein zweites Gemeindezentrum sollte auch die folgenden Verhandlungsrunden prägen. Dennoch wurde am Ende ein Kompromiss erzielt, der mit einem Briefwechsel zwischen Herbert Puchert, dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Potsdam, und dem Generalsuperintendenten Horst Lahr vom Juni und Juli 1966 besiegelt wurde. Demnach stellte der Bezirk für die Kirche eine Baukapazität von einer Million Mark zur Verfügung. Davon sollten 600.000 M für die Nikolaikirche, 150.000 M für Werterhaltungsmaßnahmen und 250.000 M für den Neubau eines Gemeindezentrums in der Waldstadt verwendet werden. Für die Garnisonkirche wurden keine Baukapazitäten eingeplant. (24)
Der Abriss der Garnisonkirche
Nach diesem Kompromiss begann der Rat des Bezirkes Potsdam mit den Vorbereitungen für den Abriss der Garnisonkirche. Am 12. August 1966 fand eine Besprechung zwischen dem Rat des Bezirkes, dem Rat der Stadt und der Bezirksleitung der SED statt, auf der der Abriss der Garnisonkirche beschlossen wurde. (25) Es folgten der Abzug der Baukapazitäten für die Sicherungsarbeiten und die baupolizeiliche Sperrung der Heilig-Kreuz-Kapelle. (26)
Wie reagierte nun die Kirche auf diese Vorgänge? Die Reaktionen waren unterschiedlich. Auf der einen Seite stand die Heilig-Kreuz-Gemeinde mit ihrem Pfarrer Uwe Dittmer. Dittmer reagierte mit massiven Protesten. Er versuchte, die Kirchenleitung und die Potsdamer Gemeinden gegen den Abriss zu mobilisieren und war bestrebt, den Abriss mit allen Formen von Sabotage und Subversion zu verhindern.
Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg reagierte anders: Nach außen hin unterstützte sie den Protest von Uwe Dittmer. Ein Beispiel ist ein Brief des Bischofverwalters Albrecht Schönherr an Walter Ulbricht vom 3. Mai 1968, in dem er gegen den Abriss Stellung bezog. (27) Andererseits gab es im kircheninternen Briefwechsel andere Töne: Ein Beispiel ist wiederum ein Brief Albrecht Schönherrs vom 15. April 1968 an die Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR. In diesem heißt es:
„Wer Potsdam kennt, weiß: es geht nicht darum, die großen, historisch bedeutsamen Kirchen der Altstadt wiederherzustellen. Hier werden sich die Bemühungen auf die Nikolaikirche konzentrieren müssen.“ (28)
Auch die praktischen Entscheidungen der Kirchenleitung waren nicht im Sinne eines Erhalts der Garnisonkirche. Am 23. Februar 1967 fand eine Sitzung des Ausschusses „Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“ statt. Dort wurde über die Verteilung der von Staat zugesagten Werterhaltungskapazitäten von 150.000 Mark entschieden. Die Französisch-reformierte Kirche, die Friedenskirche, die Friedrichskirche und die Kirche in Eiche wurden mit Geldern bedacht. Die Garnisonkirche dagegen ging leer aus. (29) Weiterhin gab es keine Versuche, die Garnisonkirche in die Spendenaktion „Potsdam – Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“ einzubeziehen. Am 17. März 1967 tagte die Diakonische Konferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland in Bad Wildungen. Dort wurde ein Beschluss über die Spendenaktion „Potsdam – Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“ gefasst, der die Garnisonkirche unberücksichtigt ließ. (30) Zudem hat Landeskirche keine Bemühungen unternommen, um Gelder oder Baukapazitäten für die Garnisonkirche zu beschaffen.
Wenig Engagement in Sachen Garnisonkirche zeigten auch die anderen Potsdamer Gemeinden. So heißt es in einem Brief von Horst Lahr an Uwe Dittmer vom 22. März 1967:
„Geistlich ist doch aber zu fragen, inwieweit unser Vorhaben (gemeint war der Protest gegen den Abriss der Garnisonkirche M.G.) und die Weise, wie wir es bisher vertreten haben, überhaupt durch die Gemeinde gedeckt ist – zunächst einmal durch ihre eigene Gemeinde und desweiteren durch die Potsdamer Gemeinden insgesamt. Pragmatisch geredet: Wir stünden ganz anders da, wenn Sonntag für Sonntag der Raum im Gemeindehaus einfach nicht reichen würde, und wenn alle Potsdamer Gemeinden in ursprünglicher Mitverantwortung sich immer wieder zu einer Fürbitte gedrängt fühlten. Soweit mein Blick reicht, ist ja beides einfach nicht gegeben.“ (31)
Im Kirchlichen Bauamt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sorgte das Thema Garnisonkirche für Konflikte. Ein Vermerk vom 26. August 1967 über die Meinung der wichtigsten Mitarbeiter zur Garnisonkirche hält folgende Positionen fest:
„-Werner Richter – negativ
-Eberhard Snell – Erst Nikolai, dann Heilig-Kreuz
-Winfried Wendland – positiv, bereit, Nikolai aufzugeben“ (32)
Wie Sie alle wissen, waren die Proteste nicht erfolgreich, die Ruine der Garnisonkirche wurde im Mai und Juni 1968 gesprengt. Dennoch haben die Proteste, und das ist die Pointe der Geschichte, etwas bewirkt: Denn nun hat der Rat des Bezirkes die Weisung ausgegeben, dass die Heilig-Kreuz-Gemeinde großzügig behandelt werden sollte. Daher bekam sie eine für die damaligen Verhältnisse großzügige Entschädigung von rund 600.000 Mark. (33) Zugleich bekam sie die Möglichkeit und die Baukapazitäten, um ihr Gemeindehaus Kiezstraße 10 nach ihren Wünschen umzubauen. (34) Die Gemeinde nutzte diese Chance, um das Haus zu einem modernen Gemeindezentrum auszubauen, mit einem Gemeindesaal, einem Wohnzimmer der Gemeinde, einem Jugendraum, einem Kindergarten und weiteren Räumen. (35) Hier entstanden genau die vielfältigen Räumlichkeiten, die die Kirchenreformer immer gefordert hatten. Hier fanden genau die Veranstaltungen statt, vor denen sich die SED immer gefürchtet hatte. Diskussionen, Vorträge, Konzerte und vieles andere lockten vor allem junge Leute in die Kiezstraße und sorgten für ein Aufblühen der Gemeinde. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde ging aus dem Konflikt um den Abriss nicht geschwächt, sondern gestärkt hervor. (36)
Der Besuch Walter Ulbrichts am 22. Juni 1967
Zum Schluss will ich noch etwas zur Rolle Walter Ulbrichts sagen. Ulbricht besuchte tatsächlich am 22. Juni 1967 Potsdam. Dieser Besuch ist im Brandenburgischen Landeshauptarchiv ausführlich dokumentiert. Demnach ließ sich Ulbricht im Gästehaus der SED-Bezirksleitung in Kleinmachnow die Planungen für die Potsdamer Innenstadt erklären, anschließend besuchte er noch eine Wahlkampfveranstaltung in der Sporthalle in der Heinrich-Mann-Allee. (37) Die entscheidende Beratung fand in Kleinmachnow statt. Ulbricht wurden Pläne und ein Modell von der Potsdamer Innenstadt vorgeführt, Stadtarchitekt Werner Berg gab Erläuterungen. Auf den Plänen sieht man eindeutig, dass die Garnisonkirche nach den städtischen Planungen abgerissen werden sollte. An ihrer Stelle sollte ein Haus der Wissenschaften entstehen. (38) Auch auf dem Modellfoto sieht man das Haus der Wissenschaften, aber keine Garnisonkirche. (39) Und Werner Berg sagte zu den Planungen folgendes:
„In der zweiten Etappe ist die Umgestaltung der Wilhelm-Külz-Straße und der Plantage als Schwerpunkt vorgesehen. Für diesen Bereich liegen städtebauliche und architektonische Vorschläge vor, die Wohnbauten in der Külz-Straße und das genannte vielgeschossige Gebäude mit zentralen Funktionen – Haus der Wissenschaften oder ähnliches – am Standort der ehemaligen Garnisonkirche ausweisen.“ (40)
Das bedeutet: Die Planungen, die Ulbricht vorgestellt wurden, sahen den Abriss der Garnisonkirche vor. Sie basierten auf dem Abrissbeschluss vom 12. August 1966. Walter Ulbricht hätte daher überhaupt keinen Grund gehabt, einen Abriss der Garnisonkirche zu fordern. Und tatsächlich äußerte sich Ulbricht zur Garnisonkirche nur kurz. Er sagte:
„Anstelle dieser Garnisonkirche z.B. muss ein Objekt stehen, das wirkt.“ (41)
Aus diesen Aussagen geht hervor, dass Ulbricht den Abriss der Garnisonkirche zwar gebilligt hat, dass er ihn aber nicht initiiert hat. Auch sonst habe ich keine Akten gefunden, die einen Abrissbefehl von Walter Ulbricht belegen.
Wie lautet nun mein Fazit? Der Abriss der Garnisonkirche war ein vielschichtiges Geschehen, das auf keinen einfachen Nenner zu bringen ist. Staatliche und kirchliche Interessen haben hier ebenso eingewirkt wie ein Zeitgeist, der dem historischen Bauerbe generell wenig Wert beimaß. Vor allem aber verbirgt sich hinter dem Konflikt um die Garnisonkirche ein spannendes Kapitel Kirchengeschichte, das nach wie vor aktuell ist.
Matthias Grünzig, geb. 1969 in Berlin, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Journalist und Buchautor. 2017 publiziert er das Buch: „Für Deutschtum und Vaterland: Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert“.
Anmerkungen
(1) Referat, gehalten auf der Tagung „Die Garnisonkirche Potsdam: Gedenkort des Versagens – ein Ort der Versöhnung?“ am 31.10.2015 in Berlin-Pankow
(2) Erhard Hohenstein: Wie die Garnisonkirche fiel, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 23.6.2008
(3) siehe z.B. Walter Braun: Vermerk, 30.11.1953, ELAB 35/17789
(4) Ehlert: Bericht über die Beratung im Bezirksbauamt am 26.7.1963 zum Gegenstand der ehemaligen Garnisonkirche in Potsdam, 30.7.1963, BLHA Rep 401 Nr. 3406
(5) Briesemann (Heilig-Kreuz-Gemeinde): Bericht über die Sicherungsarbeiten 1965/66 an der Heilig-Kreuz-Kirche in Potsdam, DstA, Po-G 487/390
(6) Für die Zeit um 1955 liegen nur getrennte Zahlen für Brandenburg und Ost-Berlin vor. Demnach gab es in Brandenburg 1954 2,4 Millionen evangelische Christen, in Ost-Berlin betrug diese Zahl 1956 864.000, siehe: Iselin Gundermann, Dietrich Meyer; Hartmut Sander (Hg.): Evangelische Kirche der preußischen Union 1817-2003, Berlin, Evangelisches Zentralarchiv, 2013, S. 138. Bis 1961 war die Zahl der evangelischen Christen in Ost-Berlin und Brandenburg auf 2,6 Millionen gesunken, bis 1971 erfolgte ein weiterer Rückgang auf 1,1 Millionen. Werner Radatz, Friedrich Winter: Geteilte Einheit, Berlin, Wichern-Verlag, 2000, S. 119
(7) Günter Jacob: Die Verkündigung an den säkularisierten Menschen, in: Zeichen der Zeit, Heft 5/1965, S. 170
(8) Günter Jacob: Christen ohne Privilegien – Möglichkeiten des Christseins in der DDR, in: Zeichen der Zeit, Heft 11/1967, S. 411
(9) Günter Jacob: Das Leitbild für den Kirchenbau in der angefochtenen Gemeinde von heute, in: Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautages (Hg.): Kirchenbau und Ökumene, Bericht über die elfte Tagung für evangelischen Kirchenbau vom 8. bis 12. Juni 1961 in Hamburg, Hamburg, Friedrich Wittig Verlag, 1962, S. 77 f.
(10) ebenda, S. 83
(11) Werner Richter: Die Pflicht zur Neugestaltung überkommener Kirchenbauten, in: Kunst und Kirche, Heft 4/1965, S. 181
(12) Christa Lewek/Werner Richter: Bericht über die Klausurtagung „Kirchenbau in veränderter Umwelt“ Hubertushöhe April 1968, 24.7.1968, EZA 104/1189
(13) Schreiben von Werner Richter an Christa Lewek vom 23.5.1968
(14) Winfried Wendland: Die christliche Gemeinde und ihre Kirchenbauten, in: Zeichen der Zeit, Heft 9/1963, S. 373
(15) Winfried Wendland: Unsere alten Kirchen, in: Kunst und Kirche, Heft 1/1968, S. 33-35
(16) Werner Richter: Stationen der Kirchbaudiskussion, in: Kunst und Kirche, Heft 3/1980, S. 130
(17) EZA 108/1704
(18) Niederschrift über die Sitzung der Regional-Kirchenleitung am 5.12.1963, ELAB 35/1323; Eberhard Snell: Aktenvermerk Betrifft: Restaurierung der Nikolaikirche in Potsdam, Kkrs. Potsdam, 15.7.1963, ELAB 35/17789
(19) Niederschrift über die Sitzung der Regional-Kirchenleitung vom 22.8.1963, ELAB 35/1323; Hass (Amt für Denkmalpflege in der Deutschen Demokratischen Republik für die Bezirke Frankfurt/Oder und Potsdam): Vermerk betreff: Potsdam, Kirchliche Denkmale, 6.5.1961, ELAB 35/17594
(20) z.B. Horst Lahr: Aktenvermerk über das Gespräch mit dem 1. Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Potsdam, Herrn Puchert, am Freitag, dem 29. Mai 1964, in der Zeit von 16.00 Uhr bis 17.45 Uhr auf dem Rat des Bezirkes vom 1.6.1964, ELAB 35/1203
(21) Rat des Bezirkes Potsdam, Referat Kirchenfragen: Konzeption für die weitere Arbeit auf dem Gebiet der Staatspolitik in Kirchenfragen, 26.8.1966, S. 3, BLHA, Rep. 401 Nr. 14418
(22) Oberkonsistorialrat Wilhelm Kohlbach: Besprechung auf dem Rat des Bezirkes am 22.2.1965, ELAB 35/698
(23) Ehlert: Bericht über die Aussprache des 1. Stellvertreters des Vorsitzenden, Gen. Zeiske, mit den Beauftragten des Ev. Konsistoriums der Kirche Berlin-Brandenburg am 18.6.1965 beim Rat des Bezirkes Potsdam, 28.6.1965, BLHA Rep. 401 Nr. 6296
(24) Schreiben von Herbert Puchert an Horst Lahr, 11.6.1966, BLHA Rep. 401 Nr. 6296; Schreiben von Horst Lahr an Herbert Puchert, 13.7.1966, ELAB 35/698
(25) Erich Mai (Sekretariat der Bezirksleitung Potsdam der SED, Abteilung Wirtschaftspolitik, Sektor Bauwesen): Zuarbeit für den Sekretär der Bezirksleitung Gen. Eidner, 12.9.1966, BLHA Rep. 530 Nr. 3023
(26) Briesemann (Heilig-Kreuz-Gemeinde): Bericht über die Sicherungsarbeiten 1965/66 an der Heilig-Kreuz-Kirche in Potsdam, ELAB 35/17742; Baupolizeiliche Sperrung: Schreiben Betreff. Heilig-Kreuz-Kirche Potsdam, Wilhelm-Külz-Straße von Rat der Stadt Potsdam, Staatliche Bauaufsicht Karl-Heinz Rönn an Uwe Dittmer vom 27.10.1966, BLHA Rep. 401 Nr. 6295
(27) Brief von Albrecht Schönherr an Walter Ulbricht vom 3.5.1968, BArch DO 4/880
(28) Schreiben betr. Potsdam Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus 68/69 von Jänicke (Evangelische Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen) an Albrecht Schönherr vom 2.5.1968, ELAB 35/698
(29) Protokoll der Sitzung des Ausschusses für „Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus Potsdam“ am 23. Februar 1967, ELAB 35/698
(30) Evangelischer Pressedienst Nr. 65, 17.3.1967, Potsdam zur „Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus“ gewählt, ELAB 35/698
(31) Schreiben von Horst Lahr an Uwe Dittmer, 22.3.1967, DstA, Po-G 487/390
(32) Uwe Dittmer: Aktennotiz betr. Heilig-Kreuz-Kirche, DstA, Po-G 487/390
(33) Stendel (Heilig-Kreuz-Gemeinde), Rolf Stubbe: Bericht über die Entschädigungsverhandlung beim Stadtrat für Finanzen am 31.7.1968, DstA, Po-G 487/390
(34) Rat der Stadt Potsdam, Gemeindekirchenrat der Heilig-Kreuz-Kirchengemeinde: Protokoll, 26.4.1968, DstA, Po-G 487/390
(35) Schreiben von: Uwe Dittmer, an: Freunde der Gemeinde, August 1972, ELAB 35/17744
(36) Uwe Dittmer: Vortrag zum Gemeindetag am 19. September 1982 anlässlich des 250. Jahrestages der 2. Garnisonkirche und des 10jährigen Bestehens des Heilig-Kreuz-Hauses, www.udpotsdam.de
(37) Vorlage für das Sekretariat der SED-Bezirksleitung Potsdam: Maßnahmeplan zur Vorbereitung und Durchführung der Wahlkundgebung mit dem Genossen Walter Ulbricht, 1. Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 22. Juni 1967 in der Sporthalle Potsdam, 13.6.1967, BLHA Rep. 530 Nr. 2609; Heinz Stern: Wie soll das neue Potsdam aussehen?, in Neues Deutschland, 23.6.1967
(38) Arbeitsgruppe Stadtzentrum Potsdam: Potsdam Stadtzentrum – Bebauungsplan Stadtzentrum, Mai 1967, BLHA Rep. 530 Nr. 3021
(39) BLHA Rep. 530 Nr. 3023
(40) Werner Berg: Entwurf für die Erläuterungen zur Stadtplanung Potsdam vor dem Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Genossen Walter Ulbricht, 20.6.1967, S.7, BLHA Rep. 530 Nr. 2609
(41) Bezirksleitung der SED: Protokoll über die Aussprache mit Genossen Walter Ulbricht am 22. Juni 1967 im Gästehaus der Bezirksleitung über den Aufbau des Stadtzentrums Potsdam, 23.6.1967, S. 5, BLHA Rep. 530 Nr. 2609
Abkürzungen:
BLHA: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam
BArch: Bundesarchiv Berlin
EZA: Evangelisches Zentralarchiv Berlin
ELAB: Landeskirchliches Archiv Berlin DstA: Domstiftsarchiv Brandenburg
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