Björn Höcke, Preußen und die Turmkopie

Wolfram Adolphi

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In seiner programmatischen Rede in Dresden am 17. Januar 2017 sprach der AfD-Politiker Björn Höcke auch von Preußen. Und brauchte, um verstanden zu werden, nicht viele Worte. Es ging ihm nicht um einen genaueren Blick in die Geschichte oder die Geographie, schon gar nicht um Ausbeutung, Unterdrückung, Militarismus, gewaltsame Soldatenaushebung und Annexionskriege, und es ging ihm auch nicht um den Widerspruch zwischen mancherlei Fortschrittsfähigkeit auf der einen und verheerender Rückwärtsgewandtheit auf der anderen Seite. Nein, worum es ihm ging, war, was im Deutschen im Sinne einer „popularen Anrufung“ (Ernesto Laclau) als „Preußisch“ verstanden wird – und zwar unbedingt in der Verbindung mit „Tugend“.

Die „preußischen Tugenden“ sind es, die er beschwört. „Ich möchte“, rief er aus, „dass ihr euch im Dienst verzehrt. Ja, ich möchte euch als neue Preußen. Ja, liebe Freunde, ich weise euch einen langen …“ – hier wurde er durch nicht protokollierte Zwischenrufe unterbrochen – „… ich weise euch einen langen – ich weiß, ich bin in Sachsen …“ – das Protokoll vermerkt eigenes Lachen und Gelächter aus dem Publikum – „… aber die preußischen Tugenden, die tun uns allen gut, egal ob wir Thüringer sind, Brandenburger sind oder Bayern sind oder …“ – der Rest des Satzes ging im Applaus unter.[1]

„Positives Leitbild“ als Kampflinie

Ein Jahr später – in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, in dem er im Dialog mit Sebastian Hennig großflächig sein Weltbild ausbreitet – geht Höcke weit über die „Tugenden“ hinaus und erhebt Preußen mit Blick auf Gesellschaft und Staat insgesamt zum „positiven Leitbild“.[2] Das mag an sich noch nichts Besonderes sein, aber der Kontext ist es, denn der besteht – Meinhard Creydt hat darauf gleich nach Erscheinen des Buches aufmerksam gemacht – im „Lob eines faschistischen Regimes“.[3] Das verlangt genaueres Hinschauen.

Höcke, emsig darauf bedacht, sich nicht in direkter Verbindung mit dem deutschen Faschismus zu zeigen, wählt als Bezugspunkt den italienischen sowie die heute auf diesen sich berufende – ebenfalls italienische – „CasaPound-Bewegung“. Ob es einer solchen Bewegung auch in Deutschland bedürfe? Nein, sagte er, eine solche „brauchen wir in Deutschland nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“

Das „positive Leitbild Preußen“ ist für Höcke demnach geeignet, in Deutschland Funktionen einer neofaschistischen Bewegung à la „CasaPound“ wahrzunehmen. Das Leitbild nicht nur eine akademische Veranstaltung, sondern eine Kampflinie. Der Gestalt und Inhalt zu geben Höcke mit dem Knüpfen weiterer Verbindungen zwischen Italien und Preußen unternimmt: Als Gesprächspartner Hennig – gleichaltriger, aus Leipzig in der DDR stammender Gesinnungsfreund des 1972 in Lünen in der BRD geborenen Höcke, mithin ein Umstand, der  dem Buch die für Höcke nützliche Aura der Ost-West-Gemeinsamkeit verleiht – die Vermutung äußert, man könne „den Faschismus ja auch als den Versuch einer ‚Preußifizierung‘ Italiens verstehen“, hält Höcke das für einen „interessanten Gedanken“ und fügt hinzu: „Das ‚unbequeme Leben‘, das Mussolini seinen Landsleuten abforderte, erinnert zumindest ein bisschen an die kratzige, aber wärmende preußische Jacke, von der Bismarck sprach.“

Und dabei macht er noch nicht halt. Am Faschismus – teilt er weiter mit – „schätzten die Italiener bekanntlich [sic!] […] die Ausschaltung der Mafia, die Trockenlegung der Sümpfe, die guten Straßen und die pünktlichen Züge“, und es verdanke sich „auch die heute noch wahrnehmbare moderne Urbanität“ – er nennt als Beispiele Turin, Florenz und Rom – „einem ‚faschistischen Stil‘, der in seiner nüchternen Klarheit durchaus Anlehnungen an“ – hört, hört! – „die preußische Epoche der Schinkel, Schadow und Rauch aufweist.“[4]

So viel Gloria für Faschismus und Preußen in einem Atemzug. Für die Einparteiendiktatur hingegen, das Verbot anderer Parteien und der Gewerkschaften, die Verfolgung aller, die oppositionelle Aktivitäten oder abweichende Meinungen zeigen, die italienischen Eroberungskriege in Afrika und die Entrechtung der Juden und ihre Deportation in deutsche KZs hat Höcke nur – so noch einmal Creydt – „beredtes Schweigen“.[5]

Bei Höcke wie Hitler: „Pro Preußen“ als Protestattitude

Wird ein Bogen geschlagen vom Preußenblick Höckes zurück zu dem, den Hitler in „Mein Kampf“ entwickelte, so fällt die Verwandtschaft der popularen Anrufung ins Auge.

Höcke gibt sich in seiner Rede vom 17. Januar 2017 eine kämpferische Attitude, indem er ausgerechnet in Sachsen für Preußen wirbt. Er muss das nicht weiter ausführen: Jede und jeder weiß, dass sich Sachsen und Preußen nicht nur „nicht leiden“ können, sondern im Siebenjährigen Krieg 1756-1763 gegeneinander standen und noch einmal in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, bei der es die Sachsen immer noch mit Napoleon hielten und mit ihm zusammen untergingen, während die Preußen gemeinsam mit Österreich-Ungarn und Russland den für das ganze 19. Jahrhundert wegweisenden Sieg errangen.

Hitler inszenierte sich 1926 als einer, dessen Mut darin besteht, ausgerechnet in Bayern für Preußen einzutreten. Er glaube, schrieb er, in seinem Leben „noch keine unpopulärere Sache begonnen zu haben“ als den schon 1919 betriebenen „Widerstand gegen die Preußenhetze“. In München hätten „schon während der Räteperiode die ersten Massenversammlungen stattgefunden, in denen der Hass gegen das übrige Deutschland, insbesondere aber gegen Preußen“, zu einer „Siedehitze aufgepeitscht“ worden sei, die sich am Schluss in einem „wahnsinnigen Geschrei“ von Losungen wie „Los von Preußen!“, „Nieder mit Preußen“, „Krieg gegen Preußen“ entladen habe. Es habe darum sein entschlossener Kampf gegen „diesen Wahnsinn“ viel Kraft gekostet, aber doch auch dazu geführt, dass „die Schar“ seiner „Getreuen“ bald „auf Leben und Tod“ auf ihn „eingeschworen“ gewesen sei[6] und die „junge Bewegung“ seinen Kampf gegen die „Preußenhetze“ als „heilige Aufgabe […] weitergeführt“ habe.

Die Beschwörung Preußens als Motor der politischen Gesamtarbeit. – Seine Entschlossenheit zum „unpopulären Widerstand“ stellte Hitler auf zwei Säulen: erstens auf die antisemitische Vorwurfskonstruktion, die „Schürung von Preußenhass“ sei Teil einer „jüdischen Verhetzungstaktik“; und zweitens auf die Überzeugung von der herausgehobenen Rolle, die Preußen in Deutschland zu spielen habe. Man könne, so schrieb er die Weimarer Republik attackierend, „keine föderalistische Gestaltung des Reiches popagieren, wenn man das wesentlichste Glied eines solchen Staatsbaues, nämlich Preußen, selbst heruntersetzt, beschimpft und beschmutzt.“ Zu verteidigen seien „die Vertreter des alten konservativen Preußens, also die Antipoden der Weimarer Verfassung“, und zu verteidigen sei auch – Hitler singt das Lied von der „Volksgemeinschaft“ – „das Berlin von vier Millionen emsig arbeitenden, fleißig schaffenden Menschen“. Dies sei eines, dass „der Bayer“ unter dem Eindruck der „Preußenhetze“ leider gar nicht erkennen könne. Er – „der Bayer“ – sehe vielmehr nur „das faule, zersetzte Berlin des übelsten Westens“, kehre jedoch seinen Hass „nicht gegen diesen Westen“, sondern „gegen die ‚preußische‘ Stadt.“ Und das sei „wirklich oft zum Verzweifeln“ gewesen.

Weihnachtsgruß der AfD Potsdam, 2022

Potsdam als „Leitbild“-Hauptstadt

Preußen als „positives Leitbild“ hat für Höcke einen unverzichtbaren Ort: Potsdam. Hier „atme“ der „preußische Geist“ nun einmal „am stärksten“, hier biete der „Genius loci des preußischen Arkadiens“ in „außergewöhnlichem Maße“ jene „Ruhe und Kontemplation“, die „zum Regieren gehören“. Natürlich werde es keinen Hauptstadtwechsel geben, aber dann solle man eben, meint Höcke, „den imaginierten Umzug der Regierung nach Potsdam einfach als eine vielsagende politische Metapher“ zu nehmen: „Preußen“ sei „als geschichtliches Phänomen für die Erneuerung unseres Gemeinwesens von elementarer Bedeutung.“[7]

Damit dieser Gedanke greifen kann, muss das „geschichtliche Phänomen“ freilich seiner tödlich negativen Seiten enthoben werden, und das tut Höcke mit dem Einschub, dass das „Atmen“ des „preußischen Geistes“ in Potsdam stattfinde „trotz der verheerenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg“[8] – ganz so, als ob die nicht gerade im „preußischen Geist“ eine Ursache gehabt hätten und im Ort Potsdam einen politischen und geographischen Ausgangspunkt.

Und weil das so dramatisch ist mit dem Ort Potsdam in der Geschichte, gibt es dort auch in der Gegenwart besonders heftige Auseinandersetzungen, und die konzentrieren sich auf das Projekt „Wiederaufbau der Garnisonkirche“. Höcke ist nicht leibhaftig dabei, aber sein Preußenbild ist – weil es nicht so isoliert daher kommt, wie es scheinen mag – immer präsent.

Potsdam, 21. März 1933

Potsdam also. Und seine Garnisonkirche. – Der 21. März 1933 ist als „Tag von Potsdam“ in die Geschichte eingegangen. Schon aus dem Wenigen über seinen Kampf gegen die „Preußenhetze“ erhellt die große, ja zentrale Bedeutung, die dieser Tag für Hitler gehabt haben muss. Erst wenige Wochen zuvor, am 30. Januar, war er an die Macht gekommen, nun – nachdem er auf dem Weg dorthin von vielen Tausend Bürgerinnen und Bürgern jubelnd begrüßt worden war – empfing er in der Potsdamer Garnisonkirche die Weihe eben jenes konservativen Preußen, für das er schon in seinen frühen Münchener Jahren so „todesmutig“ in den Kampf gezogen war. – Und auch für Höcke sollte es – 58 Jahre und zwei Zeitenwenden später und von ihm selbst nur aus der Ferne erlebt und doch vom 21. März 1933 nicht zu trennen – einen für Potsdam und Preußen bedeutsamen Tag: den 14. April 1991.

Doch dazu später. Hier erst zum 21. März 1933. – Friedrich Schlotterbeck, Antifaschist und beißend polemischer Preußenkritiker,[9] zitierte zu dessen Beschreibung in seinem 1968 in der DDR erschienenen Buch „Im Rosengarten von Sanssouci“ den nachmaligen Bischof Otto Dibelius, der im März 1933 Generalsuperintendent der Kurmark in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union gewesen ist – Schlotterbeck nennt ihn „Generalsuperdompteur des Geistes von Potsdam“ – und in seinen Erinnerungen notiert hat, bei der „Geisterbeschwörung in der Garnisonkirche“ (Schlotterbeck) „in der alten Kaiserloge“ Platz genommen zu haben, und zwar „unmittelbar hinter den drei Stühlen, die für den Reichspräsidenten (Hindenburg), den Reichskanzler (Hitler) und den Reichstagspräsidenten (Göring) gestellt waren. In der ersten Reihe saß der Kronprinz.“[10]

Der Kronprinz. Der habe – so wieder Dibelius im Zitat bei Schlotterbeck – „den ernsten Gruß des Reichspräsidenten […] mit gleicher Feierlichkeit [erwidert]“ und „der Rede des Reichskanzlers […] immer wieder lebhafte Zustimmung [genickt].“[11] – Das sind bedeutsame Sätze angesichts der heute wieder Schlagzeilen machenden Versuche der Hohenzollern, so zu tun, als hätten sie mit den Führern des faschistischen Deutschland kaum etwas zu tun gehabt, ja ihnen gar mutig entgegengestanden, auf dass man ihnen heute das Recht einräume, einst enteignetes Eigentum zurückzubekommen.

„Die wichtigeren Männer“ übrigens – so wieder Schlotterbeck –, „die sich in Frankreich ‚Societé anonyme‘ und in Deutschland ‚Aktiengesellschaft‘ nennen, blieben wie üblich im Hintergrund.“ Im Vordergrund aber spielte sich – wie Dibelius sich erinnert – das Folgende ab: Als Hitler mit seiner Rede zu Ende war, „tritt er von dem Pult zurück, Hindenburg tut einen Schritt nach vorne, streckt ihm die Hand entgegen, Hitler ergreift sie und beugt sich tief, wie zum Kuss, über die Hand.“[12]

„Anschließend“, schreibt Schlotterbeck in kürzestmöglicher Umreißung der 12 deutschen Faschismusjahre, „bekam der Geist von Potsdam wieder Blut zu lecken, erst deutsches, dann in Strömen.“[13] – Der „Geist von Potsdam“. Zu seinem Begreifen zitiert Schlotterbeck den Hofprediger Dr. Vogel im Jahre 1918: „… ist doch die Garnisonkirche Potsdams die sichtbare Verkörperung des Potsdamer Geistes, d. h. aller christlich-germanischen Ideale und Tugenden: der Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Unbestechlichkeit, der Gewissenhaftigkeit und Sittenreinheit, des Mutes und der Demut, mit einem Wort: der Treue.“[14]

Es fehlten in dieser Beschreibung – meint Schlotterbeck – „dem Geist von Potsdam ‚Ehre‘ und ‚Gewissen‘“, und das deutet er wie folgt: Der Text stamme vom Ende des Jahres 1918, beziehe sich daher nicht auf den vor der Revolution „geflohenen Wilhelm“, sondern habe – weil „das Volk den unstillbaren Blutdurst des Geistes von Potsdam satt hatte“ und „deshalb versuchte, ihm den Garaus zu machen“ – „nur zur Erbauung der Potsdamer Garde“ gedient.[15] Das mit dem Garaus ist bekanntlich nicht gelungen. Zwar ging der Kaiser, aber viele andere blieben, und denen – stellte der Hofprediger erleichtert fest – war es „geglückt“, „den Geist von Potsdam in die neue Reichswehr zu verankern“, andernfalls „der Bolschewismus […] uns längst hinweggerafft [hätte].“[16]

Am „Tag von Potsdam“ war der Bolschewismus längst blutig in die Schranken gewiesen, aber – Hitler und die Seinen wussten es – die ergriffene Macht bedurfte noch der weiteren Befestigung, und die gelang mit dem Spektakel in der Garnisonkirche. Hitler – so fasst es mit Matthias Grünzig einer der profiliertesten Preußenkritiker zusammen – konnte einen „enormen Prestigegewinn“ für sich verbuchen, war nun „der unbestrittene Führer des rechten Lagers“, es unterstellten sich ihm „zahlreiche rechtsextreme Organisationen“ wie der „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, der „Bund Königin Luise“ – „das weibliche Pendant zum Stahlhelm“ – sowie der „Reichskriegerbund ‚Kyffhäuser‘“, und die „Deutschnationale Volkspartei“ erlebte einen „rasanten Auflösungsprozess“ mit „massenhaften Übertritten zur NSDAP“. „Vor allem aber“, so Grünzig weiter, „wurde Hitler nach dem Handschlag von Potsdam als der legitime Erbe Hindenburgs angesehen“, so dass er „nach Hindenburgs Tod am 2. August 1934 die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten übernehmen“ und „die Wehrmacht […] am 3. August auf Adolf Hitler persönlich vereidigt“ werden konnte. „Damit war die nationalsozialistische Machtergreifung abgeschlossen. Der ‚Tag von Potsdam‘ markierte eine zentrale Station auf diesem Weg.“[17]

(Im originalen Aufsatz folgen Passagen zum 14. April 1991 und seiner Vorgeschichte wie auch zum zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen den Wiederaufbau der Kirche und neue Offensiven des „Preußenflügels“, die stark auf die im „Lernort Garnisonkirche“ bereits nachzulesenden Chroniken und Texte zurückgreifen.)

Höckes Preußenbild mit hegemonialer Potenz

Im Projekt Wiederaufbau Garnisonkirche bündelt sich alles, was zur popularen Anrufung „Preußen“ und der damit verbundenen, den preußischen Militarismus und den deutschen Faschismus verharmlosenden Geschichtsschreibung gehört. Die auf den 14. April 1991 folgende Geschichte des Wiederaufbaus, die in der Realität die noch nicht abgeschlossene Geschichte der Errichtung einer Turmkopie ist, macht das Zustimmungspotential zu Höckes Preußenbezügen als dauerhafte Erscheinung sichtbar, die sich weit in die Gesellschaft erstreckt.

Mit seinem Preußenbild verfügt Höcke über ein ideologisches Konstrukt, dem eine hegemoniale Potenz innewohnt. Als am 14. April 1991 in Potsdam mehr als 10.000 Menschen in trauter Gemeinsamkeit mit Spitzen aus Politik, Kirche und Gesellschaft der Rede des Neonazis Max Klaar lauschten, hatte ihre aus welchen Motiven auch immer geborene Zustimmung – oder bei manchen auch nur Arglosigkeit, wer will das so genau wissen – ganz gewiss mit dem rauschgleichen Gefühl zu tun, man werde mit dem Wiederaufbau der Garnisonkirche der hinwegrevolutionierten, untergegangenen DDR noch einen weiteren Stoß versetzen. Die Kommunisten hatten sich angemaßt, der Stadt, die in einem Krieg zerstört worden war, der eben hier einen seiner Ausgangspunkte gehabt hatte und von ihnen mit dem Ruf „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler – wer Hitler wählt, wählt Krieg!“ schon von seinen ersten Anzeichen an unter höchster Gefahr für Leib und Leben bekämpft worden war, ein neues Gesicht zu geben ohne Preußens Stadtschloss und Preußens Garnisonkirche, deren Ruinen sie gesprengt hatten, und damit musste nun ein Ende sein.

Auf verlockende Weise war plötzlich die Möglichkeit entstanden, nicht mehr über faschistische deutsche und preußische und eigene Schuld zu reden, sondern sich doppelt als Opfer zu fühlen: als Opfer des Luftangriffs und als Opfer der Ruinensprengung. Das passte auch gut mit zeitgeistigen Theorien vom „Totalitarismus“ zusammen – war nicht beides unter Diktaturen geschehen? –, und es machte verständlich, dass man nun „Wiedergutmachung“ wollte. Wiedergutmachung durch Restauration.

Auch mit Leuten wie Max Klaar. Es ist Unsinn, wenn Wieland Eschenburg im Juli 2021 erklärt, man sei diesen Mann betreffend 1991 wohl „zu blauäugig gewesen“, habe „nicht erkannt, mit was für einem Gesellen“ man es da „zu tun gehabt“ habe.[18] Wer soll das glauben angesichts des Wissens um die Dokumente, die den Entscheiderinnen und Entscheidern der Jahre 1990/91, zu denen Eschenburg gehörte, vorlagen? Karl Gass hat in seinem 1999 erschienenen Buch „Der Militärtempel der Hohenzollern“ die Zusammenhänge deutlich dargestellt: Alle Reden und Dokumente dieses 17. Juni 1987 – des nicht zufällig gewählten 34. Jahrestages des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR, der in der Bundesrepublik als „Tag der deutschen Einheit“ begangen wurde – waren allen Abgeordneten des Potsdamer Stadtparlaments von der „Traditionsgemeinschaft“ selbst zur Verfügung gestellt worden. Auch seien die Auffassungen Klaars kein Geheimnis gewesen, wonach „Potsdamer Garnisonkirche und preußische Tugenden“ nicht nur für Deutschland „in die Zukunft“ wiesen, sondern auch für die Europäische Union. Wenn diese dereinst – so der von Gass zitierte Klaar – „als Staatenbund und vielleicht einmal als Bundesstaat gelingen“ sollte, dann weise „preußische Gesinnung und Staatsauffassung den Weg“; wer immer „auf die Kompassnadel unserer Geschichte“ schaue, finde dort „Preußen“. Aber so klar und unmissverständlich auch immer das zum Ausdruck gebracht worden sei: Von einem „Aufschrei der Empörung“ bei den Abgeordneten – so Gass weiter – sei nichts bekannt geworden, „wohl aber von der Bereitschaft zu freundlichstem Entgegenkommen und kameradschaftlicher Zusammenarbeit.“[19]

Klaar passte einfach bestens hinein in das Konzept, die DDR im Stadtbild – und damit auch in millionenfacher Erinnerung – zu entsorgen und sein Heil nicht in der Entwicklung von Neuem, sondern im Rückgriff aufs Preußische zu suchen.

Und darum an dieser Stelle noch einmal zu Höcke und seinem „Leitbild“, das so klingt, als sei es mit Klaar gemeinsam verfasst und allweil unterm Glockenspiel gefeiert worden. Nein, lässt Höcke 2018 wissen, er meine mit dem „für die Erneuerung unseres Gemeinwesens“ so bedeutsamen „geschichtlichen Phänomen“ Preußen „nicht nur seine bekannten Werte und Tugenden, sondern auch seine institutionellen Vorbilder“, also etwa „den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen“, und auch noch etwas ganz anderes müsse Preußen sein, nämlich: „der notwendige Tritt in den Hintern des deutschen Winkelrieds – eine Art produktiver Selbstzüchtigung der Deutschen vor allzu gemütlicher Enge und lokaler Kleinheit.“[20]

Das ist kein Spaß. Höcke mit Preußen gegen die Bundesrepublik wie einst Hitler gegen die Weimarer. Und eine gesellschaftliche „Mitte“, die den Politiker Höcke zwar ablehnt, sein Preußenbild aber teilt und die mit ihm verbundenen Gefahren nicht sehen will oder kann.

Das Umfeld der Kopie des Garnisonkirchturms ist schon preußisch bereitet. Jedenfalls architektonisch und somit unübersehbar. Mit dem Plan zur „behutsamen Annäherung“ an das Vorkriegsstadtbild geriet seit Beginn der 1990er Jahre alles, was in der DDR im Stadtzentrum errichtet worden war, auf die Abrissliste und verschwand, um Platz zu schaffen nicht nur für den Nachbau des barocken Stadtschlosses und barocker Wohngebäude, sondern auch für die Errichtung von an die Gründerzeitarchitektur angelehnten Geschäftshäusern wie die „Wilhelmgalerie“ oder – am Ort des lange noch als Fachhochschule genutzten, 2017 abgerissenen Gebäudes des Instituts für Lehrerbildung – ganz aufs Original setzenden preußischen Straßenzügen.

Preußen ist im Potsdamer Stadtzentrum wieder da; die DDR, entstanden aus Preußens Niederlage, verschwunden. Das Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum direkt neben der Turmkopie ist der letzte im Stadtzentrum gelegene Widerhaken. Was wird geschehen? Die Auseinandersetzungen gehen weiter.

Höcke, die hegemoniale Potenz seiner Preußensicht begreifend und entsprechend um Respektabilität bemüht, meint im weiter oben schon zitierten Gespräch mit Hennig, dass dem „deutschen Gemeinwesen“ eine „Synthese aus dem Geiste Potsdams und Weimars […] gut zu Gesicht [stünde]“. „Neben dem preußischen ‚Suum Cuique‘“ – er gibt den Bildungsbürger und wählt die lateinische Form des antiken Ausspruchs, der auf Deutsch „Jedem das Seine“ heißt und von den deutschen Faschisten als Inschrift am Eingangstor zum KZ Buchenwald aufs Zynischste menschenverachtend gedeutet worden ist – „[müsste] der Leitspruch der deutschen Klassik stehen: ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.‘“[21]

So will er sein „Leitbild Preußen“ auch denen, die der von ihm gemeinten „produktiven Selbstzüchtigung“ per „Tritt in den Hintern“ vielleicht nicht allzu viel abgewinnen können, schmackhaft machen. Das Weimar Goethes, Schillers und Herders mit dem „preußischen Arkadien“ vereint und dies alles von der Architektur Potsdams getragen und in ihr gespiegelt: Es liegt darin viel – gefährlich viel! – populare Anrufung.

Auszug aus einem Aufsatz mit dem Titel „Höcke und Preußen. Eine Skizze“, der in voller Länge enthalten ist in: Wolfgang Veiglhuber & Klaus Weber (Hg.): höcke I – deutsche arbeit & preußischer staat. gestalten der faschisierung 3, Argument Verlag, Hamburg 2022, S. 78-113

Dr. Wolfram Adolphi, Journalist, 1988 – 1991 politisch tätig für SED,  PDS und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion Die Linke im Bundestag. Freiberuflich als Journalist tätig, u.a. für  Neues Deutschland und Junge Welt, mehrere Buchpublikationen  insbesondere zu China.

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[1] Der Tagesspiegel, 19.01.2017. – Siehe auch: https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-eines-total-besiegten-volkes/19273518.html (Abruf 20.06.2022). – Die protokollarischen Anmerkungen danken sich der Darstellung der Rede bei Luise Taubert, Die Faschisierung des Subjekts in der bundesdeutschen Gegenwart. Eine ideologiekritische Analyse von Reden der AfD, Bachelorarbeit, Hochschule München, 2020.
[2] Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Politische Bühne. Originalton, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas Hoof KG, Lüdinghausen und Berlin 2018, S. 142.
[3] Creydt, Meinhard, Björn Höcke droht mit „Dunkeldeutschland“, Telepolis, 12. Oktober 2018, https://www.heise.de/tp/features/Bjoern-Hoecke-droht-mit-Dunkeldeutschland-4186178.html?seite=all (Abruf 20.06.2022).
[4] Nie zweimal in denselben Fluss, a. a. O.,
[5] Creydt, a. a. O.
[6] Dies und alle weiteren Zitate Hitlers in: Hartmann, Christian, Thomas Vordermayer, Othmar Plöclinger & Roman Töppel (Hg.): Hitlers Main Kampf. Eine kritische Editition. Band I und II, Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin 2016, S. 1415-1419.
[7] Nie zweimal in denselben Fluss, a. a. O., S. 289f.
[8] Ebd., S. 290.
[9] Friedrich Schlotterbeck (1909 Reutlingen – 1979 Berlin/DDR) war ein antifaschistischer Widerstandskämpfer, der nach Gefängnis und KZ im Faschismus auch in der DDR inhaftiert wurde (1953-1956 wegen angeblich „verbrecherischen Beziehungen zu dem amerikanischen Agenten Noel H. Field“), dennoch in der DDR blieb und sich als Schriftsteller und Hörspielautor einen Namen machte (auch gemeinsam mit seiner ebenfalls aus dem antifaschistischen Widerstand kommenden Frau Anna Schlotterbeck). Sein Buch „Im Rosengarten von Sanssouci“ (1968) ist eine in Komplexität, Schärfe und Erzählqualität herausragende Preußenkritik, zu deren Besonderheiten auch gehört, dass sich ihr vorletzter Abschnitt einem Besuch der damals noch stehenden, 1968 gesprengten Ruine der Garnisonkirche widmet.
[10] Schlotterbeck, Friedrich, Im Rosengarten von Sanssouci, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1968, S. 205.
[11] Ebenda.
[12] Ebenda.
[13] Ebenda.
[14] Ebenda, S. 203.
[15] Ebenda.
[16] Ebenda.
[17] Grünzig, Matthias, Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933. Manuskript des gleichnamigen Vortrags auf der Veranstaltung „Garnisonkirche der Nation – Gesegnete Kriege vor 1933“ am 22.3.2018 im Alten Rathaus in Potsdam, https://lernort-garnisonkirche.de/?p=1799 (Abruf 22.06.2022).
[18] Märkische Allgemeine Zeitung, 17./18.7.2021. – Siehe auch: Adolphi, Wolfram, Hochklo überm Preußensumpf, in: Das Blättchen, 24. Jg., Nummer 19 v. 13. September 2021.
[19] Gass, Karl, Der Militärtempel der Hohenzollern. Aus der Geschichte „unserer lieben“ Garnisonkirche zu Potsdam, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1999, S. 305f.
[20] Nie zweimal in denselben Fluss, a. a. O., S. 289f.
[21] Ebenda, S. 290.

Online seit: 2. November 2022

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