Kirche im Nationalsozialismus: Ein religiöser Aufbruch

Manfred Gailus

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Woran glaubten die Deutschen der Hitlerzeit? 1933 bedeutete nicht allein eine politische Zäsur, sondern für viele Zeitgenossen zugleich ein religiöses Erlebnis: endlich Abkehr von der Weimarer Republik, die als „Gottlosenrepublik“ wahrgenommen wurde; endlich Beginn einer verheißungsvollen Zeitenkehre mit mehr Glauben, Religion und „Volksgemeinschaft“. Anzeichen eines religious revival gab es viele: Kirchenaustritte hörten plötzlich auf; atheistische Parteien und Vereine wurden sofort verboten; nationalsozialistische „Deutsche Christen“ (DC) organisierten spektakuläre Massentrauungen und -taufen.

Religiöse Glaubensbekenntnisse, Zeitschriften und Bücher schossen wie Pilze aus dem Boden. Eine der wirkungsvollsten Manifestationen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, der „Tag von Potsdam“, fand mit Segen der Kirchen in der alten preußischen Garnisonkirche statt. Kurz: Glaube, Bekenntnis, Konfession waren wieder angesagt. Dass dabei zwischen konkurrierenden religiösen Akteuren viel gestritten wurde, spricht nicht gegen diese These, sondern im Gegenteil eher für sie.

Protestanten umfassten zwei Drittel aller Deutschen und waren deshalb von besonderem Gewicht. Hauptereignis in der christlichen Mehrheitskonfession um 1933 war der Angriff der völkischen DC auf die Bastionen der „alten Kirche“. Diese evangelische Parallelbewegung zur NSDAP verfolgte das Projekt einer Vereinigung der 28 Landeskirchen zu einer zentralisierten Reichskirche, geführt durch einen nach „Führerprinzip“ regierenden Reichsbischof.

130 frisch verheiratete Paare der „Deutschen Christen“ (DC) auf einer Parade im August 1933 in Berlin. Spektakuläre Massenevents wie diese Massentrauung gab es viele, die völkische DC griff Bastionen der „alten Kirche“ an. 
130 frisch verheiratete Paare der „Deutschen Christen“ auf einer Parade im August 1933 in Berlin. Spektakuläre Massenevents..

Die Strukturen der alten Kirche wurden durchgeschüttelt

Der umstürzlerische Impuls schüttelte die Strukturen der alten Kirche durch, auch wenn das DC-Reichskirchenprojekt nach knapp zwei Jahren scheiterte. Es war diese häretische Massenbewegung, die innerkirchliche Opposition hervorrief, die sich 1934 als Bekennende Kirche (BK) konstituierte. „Kirchenkampf“, wie der Richtungsstreit auch hieß, war bei den Evangelischen vorwiegend ein Bruderkampf im eigenen Haus um die Neuausrichtung von Theologie und Kult.

Der Streit offenbarte ein gravierendes Identitätsproblem, das den vom Nationalsozialismus tief beeindruckten Protestantismus zerriss. DC und BK stritten um Vorherrschaft und Definitionsmacht dessen, was richtige, angemessene evangelische Kirche im „Dritte Reich“ sei.

Insgesamt erwies sich der deutsche Protestantismus der Hitlerzeit als vielstimmiger und dissonanter Chor ohne Dirigenten, der einen Großteil seiner Kräfte im selbstzerstörerischen internen Kampf verbrauchte. Als religiöser Akteur verfügte er über keine repräsentativen, handlungsfähigen Führungsorgane und konnte sein hohes Potenzial als Mehrheitskonfession nicht wirksam in die Waagschale der religionspolitischen Kämpfe der Epoche werfen.

Bei den Protestanten waren 20 Prozent der Pfarrer NSDAP-Mitglied

Und die deutschen Katholiken? Eine christlich-völkische Massenbewegung wie die DC gab es in der strikt hierarchischen römischen Weltkirche nicht. Hauptereignis im deutschen Katholizismus war 1933 nicht eine vom braunen Zeitgeist beflügelte christlich-völkische Bewegung, sondern das Konkordat, ein Staatsvertrag zwischen der Hitlerregierung und dem Vatikan zur Regelung der katholischen Staat-Kirche-Beziehungen. „Kirchenkampf“ war hier vorrangig ein dauerhafter Kleinkrieg mit dem politisch und weltanschaulich übergriffigen NS-Staat um Einhaltung des Konkordats. Diese permanente Abwehrhaltung kulminierte in der 1937 von allen Kanzeln verlesenen Enzyklika „Mit brennender Sorge“.

Vergleicht man die politische Orientierung der Geistlichen beider Konfessionen, so ergibt sich ein zweiter markanter Unterschied: Während bei den Protestanten durchschnittlich etwa zwanzig Prozent der Pfarrer der NSDAP angehörten, lag der Anteil der „braunen Priester“ bei unter einem Prozent. Größere Empfänglichkeit für den braunen Zeitgeist in der Mehrheitskonfession, hingegen größere Distanz und mehr Abschottung im katholischen Milieu – damit sind wesentliche Unterschiede benannt.

Von einer Resistenz der Katholiken kann keine Rede sein

Von einem geschlossenen Block „christlichen Widerstands“ oder auch nur Resistenz der Katholiken gegenüber dem Nationalsozialismus kann jedoch keine Rede sein. Auch für die meisten deutschen Katholiken war ihr christlicher Glaube durchaus mit dem Nationalsozialismus vereinbar, wie die funktionierende NS-Herrschaft in rein katholischen Regionen erweist. Es müssen überwiegend Katholiken gewesen sein im Regierungsbezirk Aachen oder Trier, in den Diözesen Oberbayerns, die Hitlers Herrschaft ausübten.

Jenseits der großen christlichen Konfessionen kam der religiöse Aufbruch von 1933 im Projekt völkischer Gruppen zum Ausdruck, die sich zur Deutschen Glaubensbewegung zusammenschlossen. Deren Führer erhofften sich Anerkennung als „dritte Konfession“. Ihr Angebot an die NSDAP, das Religiöse des „Dritten Reiches“ selbstständig und außerhalb der NSDAP zu organisieren, traf in der Parteiführung auf wenig Anerkennung. Bis 1935 vermochten die „Deutschgläubigen“ die Zahl von 30.000 Mitgliedern kaum zu überschreiten, danach war ihr Einfluss rückläufig.

„Deutschgläubige“ und „Gottgläubige“

Zu unterscheiden sind „Deutschgläubige“ und „Gottgläubige“: Während erstere Netzwerke mit eigenen Gruppen bildeten, identifizierten die „Gottgläubigen“ als fanatische Nationalsozialisten die NSDAP und SS als ihre neue Kirche. Sie verstanden sich als „religiös“ außerhalb der christlichen Konfessionen. SS-Führer Heydrich sprach vom Bekenntnis zur „kirchenfreien deutschen Religiosität“. Ihr Credo war die NS-Weltanschauung, personifiziert in der Führerfigur. Vorwiegend SS-Mitglieder, Parteifunktionäre und Beamte bekannten sich als „gottgläubig“. 1939 bekannten sich etwa 2,75 Millionen Personen (3,5 Prozent der Bevölkerung) zu dieser „Konfession“. In Berlin erreichten „Gottgläubige“ zehn Prozent, in der Unistadt Jena knapp 16 Prozent.

Auch die Hitlerbewegung mit ihren braunen Kulten und Liturgien besaß religiöse Dimensionen. Im Unterschied zur KPdSU und KPD war die NSDAP keine atheistische Partei, die eine Gott-ist-tot-Politik verkündete. Ohne ihren religiös überhöhten Glauben an „Volk“, „Rasse“ und „Führer“ ist die Dynamik der NS-Bewegung nicht zu erklären. Konzepte wie „politische Religion“ tragen dem in der Forschung Rechnung.

Später radikalisiert sich die Religionspolitik

Nach mehreren Jahren erfolgreicher Festigung als Regime radikalisierte sich die Religionspolitik der Machthaber: Die NS-Weltanschauung und der ihr eingeschriebene Gott- oder Deutschglaube sollten den „alten Glauben“ der Kirchen verdrängen. Unter Parolen wie „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ schränkte das Regime den Wirkungsbereich der christlichen Konfessionen ein, vor allem in Schule und Jugendorganisationen. NS-Lebensfeiern zu Geburt, Eheschließung und Totengedenken sollten die christlich geprägten Riten ersetzen.

Gleichwohl gab es in der Religionspolitik keine klare Strategie, stattdessen viel Trial and Error. Die „religiöse Frage“ war parteiintern ungeklärt. Nach der Konfessionszugehörigkeit ihrer Mitglieder war die NSDAP eine „christliche Partei“: Über zwei Drittel gehörten zugleich einer christlichen Kirche an. In der Parteiführung dominierten die weltanschaulichen Rigoristen (Himmler, Heydrich, Rosenberg) mit religionspolitischen Utopien im Sinne einer „Endlösung der religiösen Frage“. Sie trieben einen religiösen Mentalitätsbruch mit kulturrevolutionären Konsequenzen voran. Ihnen gegenüber standen „christliche Nationalsozialisten“, die germanisiertes Christentum und Nationalsozialismus für vereinbar hielten. Sie waren auf mittlerer und unterer Parteiebene stark vertreten und für die Loyalitätsbindung großer christlicher Bevölkerungsteile von hoher Bedeutung.

Es war keine atheistische Partei, die die Vernichtung der Juden ins Werk setzte

Juden und Judentum konnten unter den Zwangsbedingungen des „Dritten Reiches“ kein Player auf dem breit ausgefächerten religiösen Feld sein. Sie waren ausgeschlossen, verfemt, vertrieben und schließlich der Vernichtung preisgegeben. Rasse und Religion waren im Prozess dieses neuzeitlichen kollektiven Exorzismus nicht voneinander zu trennen, sondern verhielten sich komplementär.

Es war nicht eine atheistische Partei, die Verfolgung und Vernichtung ins Werk setzte, sondern eine sakral hochgradig aufgeladene, religiös buntscheckige Partei, deren Mitglieder zu zwei Dritteln einer christlichen Kirche angehörten. Für die rassistische Bestimmung von „deutschblütig“ oder „fremdblütig“ fanden die Verfolger keine harten anthropologisch-biologischen Kriterien. Stattdessen griffen sie als Ersatz auf die Religionszugehörigkeit zurück. Schließlich stellten die christlichen Kirchen für den Ariernachweis die Eintragungen ihrer Kirchenbücher im Sinne kirchlicher Amtshilfe zur Verfügung.

Glaube, Bekenntnis und Religion waren seit 1933 heftig debattierte Themen, und sie beschäftigten die meisten Deutschen während der NS-Epoche mehr als zuvor oder danach im 20. Jahrhundert. Säkularisierungsgeschichtlich handelt es sich um Zeitenkehre und Gegenzeit. Diese Trendumkehr geschah jedoch nicht, wie von den Kirchen erhofft, im Sinne einer Rechristianisierung. Die politische Religion des Nationalsozialismus belebte das religiöse Geschäft zwar einerseits, erwies sich aber zugleich als existenziell gefährlicher Rivale der christlichen Konfessionen im Streit um die Seelen der Deutschen.

Manfred Gailus, geboren 1949 in Winsen (Luhe) ist promovierter Historiker und außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin

Zuerst erschienen in Tagesspiegel, 15.11.2019

Online seit: 23. Mai 2020

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