Dibelius‘ Rückblick auf den Tag von Potsdam

Dr. O. Dibelius

Der Predigt von Otto Diblius am Tag von Potsdam folgte nicht zuletzt Reichspräsident von Hindenburg

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Viele wollen bei Otto Dibelius Predigt zum Tag von Potsdam trotz allem auch eine widerständige Haltung erkennen, so etwa auch sein Biograf Hartmut Fritz (Otto Dibelius: Ein Kirchenmann zwischen Monarchie und Diktatur, Göttingen 1982). Er schreibt Dibelius die Auffassung zu, dass „die Kirche … ‚Widerstand‘ leisten, d.h. der Versuchung der politischen Vereinnahmung und Gleichmacherei widerstehen“ müsse (S. 388); dass „diese Kirche um ihrer selbst und um ihres Wächteramtes willen auch einer ’nationalen Regierung‘ gegenüber den kirchlich gebotenen Abstand wahren und – wenn es denn sein sollte – auch den kirchlich gebotenen Widerstand entgegensetzen muss“ (S. 396). Laut Fritz weise Dibelius Potsdamer Predigt „einschränkende, mahnende und in die Schranken weisende“ Worte auf (S. 400), kurzum: „Dibelius hatte sich der symbolträchtigen Dramaturgie und Szenerie dieses Tages in theologischer Grundsätzlichkeit und mit dem ekklesiologischen Vorbehalt“ entgegengestellt (S. 406).

Schon bei der Lektüre des Predigttextes fällt es einem schwer, dieser Einschätzung zu folgen. Dieser Eindruck bestätigt sich bei der Lektüre des Textes, den Dibelius selber eine Woche später als Rückblick auf den Tag von Potsdam in seiner wöchentlichen Kolumne im Berliner ‚Evangelisches Sonntagsblatt‘ am 2. April 1933 veröffentlicht hat, den wir im Folgenden ungekürzt wiedergeben:

Der Predigt von Otto Dibelius am Tag von Potsdam folgte nicht zuletzt Reichspräsident von Hindenburg

Die Wochenschau soll diesmal von der gewohnten Linie abweichen. Sie soll ein paar persönliche Erinnerungen an den 21. März festhalten, wie sie die Tagespresse nicht hat bringen können.

Mühsam hat sich der Chauffeur durch die verstopften Straßen Potsdams den Weg bis zur Sakristei der Nikolaikirche gebahnt. Es ist gerade noch Zeit, den Ornat anzulegen. Wir müssen durch die Kirche schreiten, in der die evangelischen Reichsminister schon vollzählig sitzen, während die Plätze der Abgeordneten noch große Lücken aufweisen. In wenigen Minuten soll der Reichspräsident vorfahren. Im letzten Augenblick kommen noch die Autobusse mit den Abgeordneten, die ebenfalls hatten umgeleitet werden müssen, da durch die Menschen kein Durchkommen mehr war. Und dann ist der Reichspräsident unter dem ungeheuren Jubel der Menschenmassen vorgefahren. Den Blumenstrauß nimmt er von der Tochter des Pfarrers Lahr freundlich entgegen. Dann begrüßt er den Generalsuperintendenten und den Superintendenten von Potsdam. „Gott sei dank, daß wir so weit sind!“ sagt er mit seiner tiefen Stimme zu den Geistlichen – aber doch so laut, daß auch die Umstehenden es hören – „es hat lange genug gedauert!“

Dann schreitet er langsam, von seinem Sohn und von den Geistlichen geleitet, durch den breiten Mittelgang zu seinem Sessel. Der Marschallstab wird auf ein Samtkissen neben ihn gelegt.

Der Gottesdienst geht seinen Gang. Ein unvergeßliches Bild: der greise Reichspräsident, der „Vater des Vaterlandes“, dem Gottesdienst folgend. Er liest die gedruckte Ordnung mit seinen 85 Jahren noch ohne Brille. Aber er braucht sie kaum zu lesen. Die Lieder, die gesungen werden, singt er auswendig mit.

Dann ist der Segen gesprochen. Der Reichspräsident reicht den Geistlichen die Hand und reicht sie dem Reichstagspräsidenten Göring, der in den Bänken der Abgeordneten als erster sitzt. Göring seinerseits gibt dem Generalsuperintendenten die Hand mit einem herzlichen Wort des Dankes. Dann wird der Reichspräsident hinausgeleitet. Als der Wagen unter den Heilrufen der Menge fortgefahren ist, leert sich die Kirche. Durch ein lebensgefährliches Gedränge bahnt man sich den Weg in die Garnisonkirche.

Um die Garnisonkirche war lange verhandelt worden. Man hatte zuerst daran gedacht, die parlamentarischen Verhandlungen selbst in die Kirche zu legen. Das hatte die Kirchenleitung abgelehnt. Dazu ist ein evangelisches Gotteshaus nicht da. Sie hatte dann den Vorschlag so formuliert, wie er angenommen und durchgeführt worden ist: Eröffnungsgottesdienst in der Nikolaikirche und gleichzeitig in der katholischen Kirche von Potsdam, dann ein feierlicher Staatsakt in der Garnisonkirche. Die geschäftlichen Reichstagsverhandlungen am dritten Ort.

Es hat wohl niemanden in Deutschland gegeben, der nicht hinterher diese Anordnung als die richtige anerkannt hätte.

Die Garnisonkirche hat Weihe und Würde durch die Königsgruft, in der die Särge Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen stehen. Dann durch die alten Fahnen, die in ihr hängen. Und endlich durch das volkstümliche Glockenspiel. Als Gemeindekirche aber ist sie so unpraktisch wie alle anderen Kirchen auch, die unter dem Soldatenkönig gebaut sind: Kanzel und Altar in der Mitte der Langseite. An allen Seiten tiefe Emporen, teilweise in sich selbst abgeschlossen, so daß man einen Überblick über den Kirchenraum und über die Gemeinde von keiner Stelle aus hat. Von den fast 3000 Menschen, die an dem Staatsakt teilgenommen haben, werden nur einge allen Einzelheiten haben folgen können.

Die oberste Kirchenleitung hatte die Plätze in der alten Kaiserin-Loge unmittelbar hinter den drei Stühlen, die für den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und den Reichstagspräsidenten gestellt waren. In der ersten Reihe der Loge saß der Kronprinz, elastisch in jeder Bewegung. Den ernsten, feierlichen Gruß des Reichspräsidenten erwiderte er mit gleicher Feierlichkeit. Und der Rede des Reichskanzlers nickte er immer wieder lebhafte Zustimmung.

Rechts und links von den drei Ehrenstühlen saßen die Reichsminister und die Reichskommissare. Hier waren sie alle beisammen, deren Namen die Zeitungen fast tätlich nennen: der Vizekanzler von Papen neben dem bayerischen General von Epp, Seldte neben Hugenberg, der kleine, jugendliche Goebbels neben der staatlichen Figur des Reichswehrministers, der Reichsinnenminister Frick und die anderen alle.

Der Domchor sang. Professor Rüdel, der scheidende Dirigent, hatte wohl nicht bedacht, daß ihm in der nüchternen, eng gedrängten Garnisonkirche die Akustik der Domkuppel nicht zu Hilfe kam. Er hätte nicht nur einen Teil seines Chors mitbringen dürfen. Ein solcher Akt von geschichtlicher Bedeutung wäre es wert gewesen, den ganzen, womöglich verstärkten Domchor zu wuchtiger Wirkung einzusetzen.

Der Reichspräsident verliest seine Begrüßungsrede. Stark und klar klingt die Stimme des alten Mannes durch den großen Raum. Dann nimmt Adolf Hitler das Wort zur Erwiderung. Würdig, ernst und eindrucksvoll sind seine Worte. Zum Schluß der Rede die Kundgebung an den Reichspräsidenten. Alles erhebt sich. Als das letzte Wort gesprochen ist, tritt Hitler von dem Pult zurück. Der Reichspräsident tut einen Schritt nach vorn und streckt ihm die Hand entgegen. Hitler ergreift sie und beugt sich tief, wie zum Kuß, über die Hand des greisen Feldmarschalls. Es ist eine Huldigung in Dank und Liebe, die jeden ergriffen hat, der sie mit ansah.

Endlich die Kranzniederlegung in der Königsgruft. Die beiden Pfarrer der Garnisonkirche öffnen das Gitter. Die Kerzen in der Gruft flammen auf. Der Reichspräsident schreitet die Stufen herunter. Dann steht er schweigend. Hinter ihm sein Sohn und sein Adjutant mit den beiden großen Kränzen. Schließlich wendet er sich und läßt sich die Kränze reichen, um sie niederzulegen. Wieder steht er wie in Erz gegossen, während die beiden Soldatengestalten hinter ihm die Hand an den Stahlhelm legen. Kein Photograph konnte dies Bild festhalten, so wie wir es vor uns hatten – ein Bild von tiefer, unvergeßlicher Feierlichkeit.

Und dann ist man wieder draußen. Dann klingt das Deutschlandlied. Die Menge jubelt immer von neuem. Die Truppen defilieren. Hinter ihnen die vaterländischen Verbände. Und schließlich findet man sich mit Mühe wieder zu seinem Wagen, um zur Reichshauptstadt zurückzufahren. Die ganze lange Chaussee entlang, bis tief nach Berlin hinein, stehen Menschen, immer wieder Menschen. Die schwarz-weiß-roten Fahnen und die Fahnen mit dem Hakenkreuz flattern – –

Gewiß: wir sind noch nicht wieder ein einiges Volk! Und die Geschichte wird nicht durch Festtage gemacht. Aber daß etwas anders geworden ist in Deutschland mußte jeder spüren, der den 21. März miterlebt hat.

Gebe Gott, daß es der Anfang zu neuer, kraftvoller glaubensstarker Zukunft sei!

Und nach 1945? Nie hat sich Dibelius zu Worten einer Korrektur, gar dem Eingeständnis eines Fehlers durchgerungen. Im Gegenteil. In der Schlusspassage seines autobiografischen Buches „Ein Christ ist immer im Dienst. Erlebnis und Erfahrung in einer Zeitenwende“ (Kreuz Verlag Stuttgart 1961) dankt er Gott: „Ich danke Dir dafür, daß durch alle Wandungen und Umbrüche der Zeit hindurch mein Leben einen geraden Gang hat gehen dürfen. Erkenntnisse und Urteile haben sich gewandelt, aber die Linie des Lebens ist dieselbe geblieben von der Jugend bis ins Alter“ (S. 332). Und zum Tag von Potsdam schreibt er: „Ich habe zu dem, was ich damals gesagt habe, bis zum Schluß meines amtlichen Lebens gestanden.“ (S. 110).

Online seit: 6. Mai 2021

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