Das Modell des preußischen Staates

Dietmar Willoweit

Grunge-Flagge von Preussen 1892 - 1918

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Wer an Preußen denkt, hat zunächst das Bild des preußischen Staates vor Augen, und wir haben vernommen, in welcher Weise dieses Bild, je nachdem, wie man es sich ausmalt, weiter wirkt und instrumentalisiert wird. Dennoch ist eine Betrachtung, die sich dem Staatsmodell widmen will, mit eigentümlichen Schwierigkeiten belastet. Überlegungen zum Modell des preußischen Staates müssen sich nicht nur mit der Frage auseinandersetzen, worin dieses eigentlich besteht und warum es zugrunde gegangen ist. Mit dem Begriff des Staatsmodells wird der geschichtliche Raum verlassen und eine ausdrückliche Beziehung zur Gegenwart hergestellt. Was über das preußische Staatsmodell zu sagen ist, kann also niemals nur historischer Art sein, sondern muss, gewollt oder unbewusst, die politische Stellungnahme und Wertung mit einbeziehen. Um diesen Bezug zwischen Geschichte und Gegenwart soll es in den folgenden Ausführungen vor allem gehen.

Die Grundlagen des preußischen Staatsmodells

Über die Grundlagen des preußischen Staatsmodells lassen sich aus dem historischen Quellenmaterial wie aus der einschlägigen Literatur eine solche Fülle von Gesichtspunkten und Fakten zusammentragen, dass diese leicht ein dickleibiges Buch füllen könnten. Dennoch muss auch in der knappen Zeit, die hier zur Verfügung steht, die Frage gestattet sein, was eigentlich diese viel beschworene preußische Staatlichkeit ausmacht und worin ihr Modellcharakter liegt, oder ob die Annahme eines besonderen Staatsmodells schon daran scheitert, dass sich eine gültige Konstruktionsformel überhaupt nicht finden lässt. Ein Blick in die Literatur stimmt insofern allerdings zuversichtlich. Stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen sei aus Ernst Rudolf Hubers Verfassungsgeschichte zitiert: „Preußen ist der Staat an sich“, für den „das Staatliche am Staat der Dienst an sich“ gewesen sei. Es würde nicht schwer fallen, dieser formelhaften Wendung, die den Modellcharakter Preußens schon auf Anhieb zu bestätigen scheint, sie als ein allgemein Gültiges in den Mittelpunkt stellt, ähnliche Formulierungen und Gedanken zur Seite zu stellen, die Dienst und Pflicht als die spezifische Eigentümlichkeit der preußischen Staatsidee schildern. Von diesem Sachverhalt möchte auch ich ausgehen, obwohl er sicher nicht den einzig möglichen Einstieg darstellt.

Die Betonung des Staatscharakters Preußens ist also auch in dieser Sicht nicht dahin misszuverstehen, dass etwa nur Preußen wahrer Staat gewesen sei. Die von Hegelangedeutete Göttlichkeit des Staates hat in der Parallelisierung von Souveränität und göttlicher Allmacht ihren Vorläufer. Dass der Staat nicht stirbt, ist nicht erst in Brandenburg-Preußen entdeckt worden, und dass „der Staat die rationelle diesseitige Vorsehung anstelle der irrationalen göttlichen“ sei – ein bekanntes Wort von Ernst Troeltsch –, gilt gewiss nicht nur für das preußische Staatswesen. Dessen Staatsmodell, das preußische also – wenn es ein solches gibt – wird enger umschrieben durch den Dienst- und Pflichtgedanken. Aber worauf gründet sich die Behauptung, der Staatscharakter Preußens werde durch Dienst und Pflicht bestimmt?

Es versteht sich von selbst, dass sich solche Fragen nicht mit einer empirischen Untersuchung pflichtgetreuer und pflichtvergessener Preußen beantworten lassen. Das ist natürlich auch ein zulässiger Weg, der vielleicht intensiver beschritten werden sollte; damit wird aber diese modellartige Aussage sicher niemals bestätigt oder aus der Welt geschafft werden können. Modelle finden sich im Leben nur stückweise verwirklicht, und mit einer Befragung der Wirklichkeit lässt sich eine derart pointierte These weder bestätigen noch widerlegen. Ich wähle daher einen anderen Weg. Wir können nach dem Selbstverständnis dieses Staates fragen, wie es sich in den Äußerungen seiner Repräsentanten, seiner Administratoren und Philosophen findet. Dabei klammere ich die Zeit Friedrich Wilhelms I. aus; wir wissen, welche Bedeutung in dieser Periode der Pflichtgedanke gehabt hat. Ich übergehe an dieser Stelle auch die politischen Philosopheme Friedrichs des Großen; sie scheinen zwar mit dem Satz vom „ersten Diener“ im Staate die zu prüfende These trefflich zu bestätigen, und er ist der übliche Beleg, der hierfür herangezogen wird. Es soll auch nicht geleugnet werden, dass das Vorbild eines Königs Schule machen kann und auch wohl zum Teil Schule gemacht hat; aber eine außergewöhnliche Herrscherfigur macht noch immer kein Staatsmodell, das dem Untertan und Bürger sagen müsste, warum die Pflichterfüllung für den König und den Staat als ein ganz besonderer moralischer Wert gelten soll. Ich möchte hier einfügen, dass nach meiner Einschätzung Friedrichs Vorstellung von Politik in mancher Hinsicht erst an der Schwelle des Naturrechts und des Vernunftrechts steht, dass seine Äußerungen mindestens ebenso stark in der machiavellistischen Tradition stehen und es insofern nicht unbedingt eine Kontinuität mit der folgenden Reformepoche gibt. Das ließe sich im einzelnen belegen; darauf möchte ich hier aber aus Zeitgründen verzichten.

Die Rede vom preußischen Staatsmodell scheint mir dagegen deshalb gerechtfertigt zu sein, weil dem Staat nach preußischem Verständnis nicht nur ein politischer Wille, sondern auch politische Intelligenz zukommt. In diesem Punkte allerdings sprach schon Friedrich der Große vom angestrengten Nachdenken, das die Politik erfordere; aber er meinte damit eine aus sich selbst gerechtfertigte Machtpolitik. Als die unmittelbaren und mittelbaren Schüler Christian Wolffs in den preußischen Staatsdienst einzogen, sollte die Anstrengung politischen Denkens hinfort weniger dem wechselnden Interesse des Staates dienen, seiner Expansion und seiner Stabilisierung, als vielmehr der Erkenntnis dessen, was durch den Staatszweckgeboten ist: der Erkenntnis der richtigen Prinzipien des Staates und des richtigen Handelns. In der aristotelischen Tradition der Neuzeit stehend, wusste die politische Theorie der Aufklärung aus dem Staatszweck des gemeinen Wohls sichere Schlussfolgerungen zu ziehen: Ihr war Zweck des Staates, den einzelnen gegen gewaltsame Störungen zu schützen und den Staat um dieses Zweckes willen selbst aufrecht zu erhalten. Durch den Regenten, der Seele des Staatskörpers, wird die in der Staatsverbindung gesammelte Kraft zur Erreichung des gemeinschaftlichen Wohls in Bewegung gesetzt. Dieser Staat ist also nicht ein beliebig einsetzbarer Machtapparat; er ist selbst mit politischer Einsicht begabt, weil der Staatszweck und seine Realisierung eine Sache rationaler Erkenntnis ist. Daraus folgt einmal, dass dieser Staat mit den verschiedenen Meinungen der Vielen, mit Demokratie, Pluralismus, mit dem großen Haufen nichts im Sinne haben konnte. Wo Staatspolitik grundsätzlich nur auf Wahrheit und Irrtum beruhen kann, ist für Abstimmungen und Parteien kein Platz. Andererseits kann dieser mit Einsicht in das Notwendige begabte Staat Gehorsam fordern. Pflichterfüllung wird zu einem Gebot der Moral, Staatsdienst zur vollkommensten Form menschlichen Handelns. Ich glaube, dass da die eigentliche Wurzel für diesen Pflicht- und Gehorsamsgedanken liegt – jedenfalls eine Wurzel, die auch heute leicht einsichtig zu machen ist, wenngleich wir natürlich ein solch unbegrenztes Vertrauen in die menschliche Vernunft verloren haben.

Für die autokratische Selbstgewissheit des preußischen Staates lassen sich eine Fülle von Belegen aus der Staatspraxis und der Staatstheorie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beibringen. Erinnert sei hier nur an die Diskussion um eine altständische oder repräsentative Verfassung, an Hardenbergs Denkschrift von 1821. Hinter dem Konflikt zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip steht die Alternative einer an sicheren Staatszwecken orientierten, also Intelligenz, Einsicht und Rat erfordernden Staatsordnung einerseits und einer Berücksichtigung der autonomen politischen Willensentscheidungen der Bürger andererseits. Dem Sinn der monarchischen Autokratie entsprachen daher die gutachtende Gesetzeskommission von 1781 und der Staatsrat von 1817 in vollkommener Weise. Es ist meiner Überzeugung nach daher allzu einfach, wenn man derartige Erscheinungen des preußischen Verfassungslebens schlicht als reaktionäre Rückzugsgefechte des Absolutismus abqualifiziert. Es sind Erscheinungen, die sich in das Selbstverständnis dieses Staates gut einfügen, der in dieser Periode ja alle Angriffe, alle Tendenzen demokratischer Art abzuwehren weiß. Als Kronzeuge für die intellektuelle Anstrengung, die hinter dem aus der Aufklärung geborenen Staatsmodell Preußens steht, darf Hegel gelten. Seit langem ist sich die Hegelforschung darüber im Klaren, dass der Philosoph in der aristotelischen Tradition der Neuzeit steht. Die Beziehungen seiner Rechtsphilosophie zum preußischen Staat sind so intensiv erforscht und nachgewiesen, dass dazu an dieser Stelle allenfalls ein ergänzender Hinweis nötig erscheint. Was Hegel in unvergleichlicher gedanklicher Schärfe auch über die Institution des Staates sagt, findet sich zum Teil schon ähnlich, aber natürlich apodiktischer, schlichter, ohne den Anspruch dieses großen Philosophen, auch schon bei Svarez und einigen anderen Autoren. Die Verwandtschaft von Hegels Rechtsphilosophie mit Einrichtungen des preußischen Staates erklärt sich daher vielleicht auch aus gemeinsamen Abhängigkeiten und Wurzeln in der aufgeklärten Philosophie des 18.Jahrhunderts und nicht ausschließlich daraus, dass Hegel seinen Brotgebern zuliebe philosophiert habe.

Ohne mich nun selbst in den Chor der Hegel-lnterpreten einreihen zu wollen, möchte ich es mir doch nicht versagen, auf Hegels Vollendung des preußischen Staatsmodells, wie ich es hier zu skizzieren versuchte, hinzuweisen. Es geht da im Wesentlichen um den Abschnitt über die gesetzgebende Gewalt in seiner Rechtsphilosophie. Dort unterscheidet Hegel bekanntlich zwischen dem monarchischen und dem ständischen Element. Das erstere, das monarchische, ist „die Regierungsgewalt als das mit der konkreten Kenntnis und Übersicht des Ganzen in seinen vielfachen Seiten und den darin festgewordenen wirklichen Grundsätzen sowie mit der Kenntnis der Bedürfnisse der Staatsgewalt insbesondere beratende Moment.“ (§ 300). Im ständischen Element soll nicht etwa der Wille des Volkes, ja unvermittelt nicht einmal dessen ständisch zu differenzierendes Interesse zu verfassungspolitischer Wirkung gelangen. Das Volk ist „ein besonderer Teil der Mitglieder eines Staates“, und zwar jener Teil, „der nicht weiß was er will. Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht, welche eben nicht Sache des Volks ist.“ (§ 301). Hegel wird nicht müde, auf die notwendigerweise größere Einsicht der Staatsbeamten hinzuweisen. „Die Gewährleistung, die für das allgemeine Beste und die öffentliche Freiheit in den Ständen liegt, findet sich bei einigem Nachdenken nicht in der besonderen Einsicht derselben – denn die höchsten Staatsbeamten haben notwendig tiefere und umfassendere Einsicht in die Natur der Einrichtungen und Bedürfnisse des Staates, sowie die größere Geschicklichkeit und Gewohnheit dieser Geschäfte und können ohne Stände das Beste tun …“ (301). Der Sinn von Ständen liegt daher nur „in einer Zutat von Einsicht der Abgeordneten, vornehmlich in das Treiben der den Augen der höheren Stellen ferner stehenden Beamten“ und der damit zu erwartenden „Zensur vieler“(§ 301). Neben dieser negativen Kontrollfunktion vermitteln die Stände aber auch zwischen dem Staat und den „Interessen der besonderen Kreise“ (Gemeinden, Korporationen) sowie den Interessen der Einzelnen (§ 302). „Die eigentümliche Begriffsbestimmung der Stände … darin zu suchen, dass in ihnen das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit, die eigene Einsicht und der eigene Wille der Sphäre, die in dieser Darstellung bürgerliche Gesellschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat zur Existenz kommt“ (§ 301). Dennoch: dieses besondere Interesse wird stets im Allgemeinen des Staates verdrängt. „Da die Abordnung zur Beratung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten geschieht, hat sie den Sinn … dass sie (scil. die Abgeordneten) nicht das besondere Interesse einer Gemeinde, Korporation gegen das Allgemeine, sondern wesentlich dieses geltend machen“ (§ 309). Dabei werden solche Individuen abgeordnet, „die sich besser auf diese Angelegenheiten (d.h. die allgemeinen) verstehen als die Abordnenden“(§ 309). Denn „die … Vorstellung, dass alle an den Staatsangelegenheiten teilhaben sollen …, dass nämlich alle sich auf diese Angelegenheiten verstehen, ist ebenso abgeschmackt, als dass man sie dessen ungeachtet häufig hören kann“ (§ 308 a.E.). Es versteht sich danach eigentlich von selbst, dass die für die allgemeinen Angelegenheiten erforderlichen Eigenschaften nicht von den Ständen, sondern von jenem anderen Teile – des Volkes – garantiert werden, „der aus dem beweglichen und veränderlichen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht“ (§ 310). Denn dort ist „durch wirkliche Geschäftsführung, in obrigkeitlichen oder Staatsämtern erworbene(n) und durch die Tat bewährte(n) Gesinnung, Geschicklichkeit und Kenntnis der Einrichtungen und Interessen des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft“ und daher ein „gebildeter und erprobter obrigkeitlicher Sinn und Sinn des Staats“ (§310).

Ich möchte diese Zitatenlese, die sich auf die §§ 298 ff. der Hegelischen Rechtsphilosophie stützt, hiermit beenden; sie ließe sich noch weiterhin vervollständigen. Der Versuch, Politik als Wissenschaft zu betreiben, beruht auf dem zunächst ungebrochenen Vertrauen auf die Kraft des menschlichen Bewusstseins. Ein derart anspruchsvolles Staatsverständnis kann unter dem Eindruck der realen politischen Bewegung nicht von Dauer sein. Der Übergang zur Unterdrückung politischer Meinungen, die ja jeweils nur Ausdruck eines irrelevanten individuellen Willens sind, vollzieht sich nahtlos. Der preußische Staat, eben noch Geist und politisches Wollen in sich vereinigend, kann nicht anders, als unduldsam und repressiv auf den abweichenden politischen Willen der Bürger reagieren. Die vielberufene preußische Dienstgesinnung und Pflichttreue beruhte also nur für einen kurzen Augenblick der Geschichte auf rationalen Gründen. Solange Politik als eine Sache vernünftiger Erkenntnis erscheint, im Banne der Aufklärung auch verstehbar, nachvollziehbar und konsensfähig, solange ist gehorsamer Vollzug von staatspolitischen Entschlüssen durch Vernunft und Moral geboten. Mit dem Untergang des Vernunftglaubens aber wird die Interessengebundenheit auch dieser Politik sichtbar; ihre Legitimation geht verloren. Die Konsequenzen der Verbindung von Aufklärung und Staatsgewalt vermag ich in ihrem ganzen Umfang nicht abzusehen; ich bin überzeugt, dass sie viel weitergehen, als wir uns das heute gemeinhin klarzumachen gewohnt sind. Für die weitere Entwicklung scheint mir zum Beispiel erwähnenswert, dass die Kategorien der Objektivität und Sachlichkeit jedenfalls überwiegend im aufgeklärten Denken ihre Wurzeln haben und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nachhaltig prägen; sie gestatten dann den politischen Konsens in wichtigen Bereichen­ zum Beispiel in der Justiz und im Bildungswesen. Die Rechtsprechung ist dann nicht länger ein Tummelplatz juristischer Meinungen, sondern angesichts des Gesetzes ein objektiver, weil logischer Erkenntnisvorgang. Das öffentliche Schulwesen, das sich seit der Aufklärung entwickelt, ist ganz ähnlich durch sachliche Informationen geprägt. Schulpflicht und staatliche Schulaufsicht vervollständigen das Bild einer Gesellschaft, in der weitgehend Einigkeit darüber bestehen kann, welches Wissen erworben werden muss, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dass Bildung erzwungen wird, ist eine Konsequenz dieses Denkens. Natürlich werde ich nicht behaupten, dass die neuen Formen der Judikatur und des Schulwesens im 19. Jahrhundert nur durch das preußische Staatsmodell ermöglicht wurden. Aber gewisse Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sind doch nicht von der Hand zu weisen. Das preußische Staatsmodell vermag daher vielleicht die herkömmliche Funktionsweise gewisser öffentlicher Aufgaben zu erklären.

Die Auflösung des preußischen Staatsmodells

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich wohl ohne Schwierigkeiten, wo die allmähliche Auflösung des preußischen Staatsgedankens einsetzen musste. Dieses Staatsmodell hat von Anbeginn einen Gegenspieler: den Gedanken der demokratischen Repräsentation. Zwar umfasst dieser verschiedene Varianten; zuweilen wird stärker auf den politischen Willen des Volkes, sehr oft aber auch auf das Interesse von Gruppen abgestellt. Die Distanz zum preußischen Staat ist jedoch allemal unverkennbar. Mit dem Entwurf verschiedener politischer Programme, der Entstehung politischer Parteien, dem Gesetzgebungsrecht gewählter Abgeordneter setzen sich andere Ordnungsprinzipien durch. Der preußische Staatsgedanke steht zum Pluralismus politischer Überzeugungen in einem unlösbaren Widerspruch. Die daraus entstehenden Konflikte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind bekannt und bedürfen hier keiner besonderen Hervorhebung. Ausdrücklich wird nun auch in der Wissenschaft Politik als Kampf um die Macht begriffen, während die ältere Auffassung von der Politik als Wissenschaft dem Spott Bismarcks anheim gefallen war.

Das preußische Staatsmodell hat aber noch einen anderen Gegner. Es wird nicht nur durch den Willen des Volkes in Frage gestellt, sondern genauso durch die Willkür des Regenten. Wo der Monarch seine Entscheidung nicht rationaler Erkenntnis entnimmt, sondern einem diffusen Willensentschluss, wo er nicht dem Kollegium der Berater, sondern nur sich selbst vertraut, ist das Fundament der preußischen Staatsidee, wie ich sie dargestellt habe, verlassen. Als Beleg für diese These mag der wiederholte Vorwurf jenes Schubarth dienen, der Hegels Staatslehre für unvereinbar mit dem obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip des preußischen Staates erklärt hat. Bemerkenswert sind seine Gründe. Nach Schubarth ist „die Substanz des preußischen Staats, als einer reinen Monarchie, … wesentlich nur sein regierendes Geschlecht, welches den Staat kraft seiner einwohnenden besonderen Fähigkeiten allein zu dem gemacht hat, was er ist … Demnach ist gerade das, was Hegel als das Unbedeutende betrachtet, aus dem Begriffe des Monarchen weggelassen wissen will, das Selbstentschließen, das Selbsthandeln, die Seele und der Nerv des preußischen Staatslebens.“ Darauf erwidert der Hegel-Schüler Gans, der unmittelbare Inhalt des preußischen Staates sei die Intelligenz, und das Objektive der Intelligenz seien die Institutionen. Schubarth meine nur den Absolutismus, der nur sich selbst, das heisst die Willkür, zum Gegenstand habe. Varnhagen v. Ense, ein anderer Kritiker Schubarths, rügt sogar, aus Schubarths Theorie von der Herrscherpersönlichkeit wachse, wie aus einer Drachensaat, die „Zertrümmerung von Staat, Wissenschaft, Kunst, Religion“ hervor, „sobald die Person und mit ihr alle Willkür und Zufälligkeit, die ihr notwendig anhaftet, fortan der Regulator menschlicher Verhältnisse sein soll“. In diesem Streit haben Schubarths Gegner klar erkannt, welche Konsequenzen aus der Vergötzung einer Dynastie erwachsen. Schubarths Schrift ist ein Sympton, in welchem der Verlust aufgeklärter Selbstgewissheit und die an ihre Stelle tretende Verherrlichung des Herrscherwillens offenkundig werden.

Mit der Betonung des voluntaristischen Aspektes monarchischer Gewalt stehen wir an der Schwelle zum Wilhelminismus. Unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen am Ende des 19. Jahrhunderts, also im späten Konstitutionalismus, führt die politische Selbstherrlichkeit des Monarchen zur offenen Konkurrenz mit den anderen politischen Kräften in Regierung und Reichstag. Die Frage, wie dieses voluntaristische Politikverständnis in Theorie und Praxis vordringt, enthält möglicherweise ein Kardinalproblem der neueren deutschen Geschichte. Das wird spätestens dann deutlich, wenn wir einen Blick auf den Nationalsozialismus werfen.

Das im Nationalsozialismus praktizierte Führerprinzip stellt ausdrücklich nur noch auf den Willen des Diktators ab, dessen irrationale und verbrecherische Neigungen, Einfälle und Entscheidungen bedürfen im Sinne der nationalsozialistischen Doktrin nicht des Nachdenkens, der Beratung; sie bedürfen nicht einmal der Kabinettsitzung. Daraus ergibt sich dann von selbst, dass der Nationalsozialismus nicht ernsthaft zu einer Ausgeburt des alten Preußentums hochstilisiert werden kann, wobei das ganz entgegengesetzte preußische Staatsmodell allerdings nicht gerade an Friedrich dem Großen und dessen Expansionsdenken entwickelt werden sollte. Der preußische Staatsgedanke war ebenso ausgeprägt der Vernunft verpflichtet wie umgekehrt der Nationalsozialismus dem Affekt und dem Willen zur Macht.

Wenn diese Ausführungen auch der Auflösung des preußischen Staatsmodells gewidmet sind, so soll darüber doch der Untergang des realen preußischen Staates nicht unerwähnt bleiben. Damit verlasse ich den bisherigen Gedankengang, um hier diesen Gesichtspunkt noch kurz einzubringen. Das Schicksal Preußens seit 1933 möchte ich hier als Thema nur erwähnen; es muss Gegenstand eingehender Forschung werden. Erwähnung verdient, dass alle Gliedstaaten des deutschen Reiches und damit auch Preußen mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 ihr Ende fanden. Die Hoheitsrechte wurden auf das Reich übertragen, die Landesregierung der Reichsregierung unterstellt, die preußischen Ministerien ganz überwiegend mit den Reichsministerien vereinigt. Nach alldem scheint es sinnwidrig, dass die Alliierten im Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 den preußischen Staat auflösten. Er sei seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen. Auch über diesen Vorgang wissen wir heute im einzelnen wenig. Es ist jedoch immerhin zweifelhaft, ob das Gesetz die wirklichen Motive über die Auflösung Preußens zuverlässig angibt. Allein ausschlaggebend waren sie gewiss nicht. Im Morgenthauplan ist lapidar davon die Rede, dass die preußischen Provinzen zu eigenen Staaten gemacht werden sollten. Clay schreibt in seinem bekannten Buch, die Auflösung Preußens sei zu jener Zeit der vielleicht wichtigste Akt des Kontrollrats gewesen. Als Grund wird hier die Bildung neuer Staaten innerhalb der Besatzungszonen genannt. Eingehend zu dieser Frage äußert sich Harold Zink (1947), der berichtet, es sei jedermann bei den Alliierten klar gewesen, dass die alte preußische Vorherrschaft beseitigt werden müsste; als ausführlich erörterter Grund für diese Maßnahme erscheint auch hier die Schaffung von deutschen Staaten etwa vergleichbarer Größe zur Stabilisierung des demokratischen Systems. Das Kontrollratsgesetz selbst war insofern gegenstandslos, als schon Monate vorher die neuen Länder entstanden waren. Es ist aber nicht daran zu zweifeln, dass neben dem Bedürfnis, den eingeleiteten Maßnahmen in der tatsächlichen Neugliederung eine gesetzliche Grundlage zu geben, auch die förmliche Ächtung Preußens gemeint war. Darauf deutet auch ein anderes, vergleichbares Kontrollratsgesetz hin, nämlich das Gesetz Nr. 34 vom 20. August 1946, mit dem die deutsche Wehrmacht aufgelöst wurde, die zu diesem Zeitpunkt wahrlich auch schon nicht mehr existierte.

Über die rechtlichen Aspekte der Auflösung Preußens länger nachzudenken lohnt nicht; einige knappe Informationen genügen. Natürlich besteht an der rechtlichen Wirksamkeit jenes Gesetzes vom Februar 1947 auch nicht der leiseste Zweifel. Was in der Staatstheorie und im Völkerrecht über die Auflösung und den Untergang von Staaten gesagt wird, bezieht sich auf souveräne Staaten. Preußen war ein Teilstaat und unterstand insofern der Disposition der Staatsgewalt, die 1947 von den Alliierten wahrgenommen wurde. Damit ist das Thema erledigt. Die tatsächliche Auflösung Preußens ist kein Gegenstand rechtlicher Untersuchungen; vielmehr kann man sagen, die rechtliche Beurteilung gehorcht in diesem Punkt der Realität.

Nachwirkungen des preußischen Staatsmodells

Der demokratische Staat steht zu jenem preußischen Staatsgedanken, wie ich ihn hier dargestellt habe, in einer notwendigen Distanz. Der geregelte Machtkampf verschiedener politischer Kräfte geht von der prinzipiellen Gleichwertigkeit verschiedener politischer Programme aus. Politik ist hier nicht primär eine Sache der Erkenntnis, sondern des Willens. Politik ist nicht an einer letzten Gewissheit menschlicher Glückseligkeit, sondern an alternativen Programmen orientiert. Dieses ist ein entscheidender Unterschied zwischen preußischer Autokratie und moderner Demokratie. Für kurzschlüssige Nutzanwendungen taugt daher das preußische Staatsmodell nicht. Aber es gibt möglicherweise Fragen auf, die manches Problem in der gegenwärtigen verfassungspolitischen Situation stärker hervortreten lassen.

Zu überlegen ist, ob es in der Bundesrepublik politische Zielvorstellungen oder Grundsätze gibt, die allen politischen Kräften gemeinsam und verbindlich sind. Oder ist die Demokratie notwendigerweise eine Staatsform, die in Übereinstimmung mit ihren eigenen Prinzipien ihre Selbstaufhebung durch Mehrheitsvotum zulässt? Dann müsste jede Politik, mag sie auch den Wechsel der Staatsform betreiben, zulässig sein. Das Grundgesetz hat sich ganz eindeutig gegen diesen Weg entschieden, da es den Wesensgehalt der Grundrechte und die Strukturprinzipien des Staates – Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Widerstandsrecht – einer Änderung entzogen hat. Es gibt also auch unter dem Grundgesetz allgemein verbindliche, dem Kampf um die Macht entzogene politische Positionen. Und ich glaube, dass der deutsche Widerstand insofern als ein Vorläufer in diese Entwicklung hineingehört. Denn dort hat man im Hinblick auf die quasi-demokratische Legitimation Hitlers ja gerade versucht, allgemein verbindliche staatspolitische Grundsätze zu formulieren – wie auch immer diese im einzelnen eingeschätzt werden.

Wenn die Verfassung nun nicht nur die organisatorische Grundlage bietet, auf der die politischen Auseinandersetzungen auszutragen sind, sondern im Spektrum möglicher politischer Meinungen selbst Aussagen macht, dann fragt man sich weiter, wie denn diese allgemein verbindlichen Grundsätze einer Staatspolitik festgestellt werden können. Der Verfassungstext bedarf der Auslegung; dies ist aber mit Gewissheit nicht – wie man in den Zeiten des Vernunftrechts glaubte – ein purer Erkenntnisakt, der seine Gültigkeit aus allgemein überprüfbaren historischen oder logischen Instrumenten gewinnt. Die allgemeinen verfassungspolitischen Grundsätze bedürfen eines beständigen und fortdauernden politischen Konsenses. Insofern hat sich die historische Situation gegenüber der Aufklärungszeit grundlegend gewandelt. Es ist heute sozusagen schwieriger, Staat zu sein, als unter dem Einfluss naturrechtliehen Denkens. Die Funktionstüchtigkeit, um nicht zu sagen: die Überlebenschance, des neuzeitlichen Staats ohne Rückfall in offen diktatorische Regimes, hängt ganz wesentlich davon ab, dass jenes Minimum gemeinsamer politischer Überzeugung nicht in die Konfrontation der politischen Kräfte einbezogen wird. Dies jedenfalls ist ein Problem, das in Zukunft ganz ohne Zweifel stärker thematisiert werden muss, weil die Vergangenheit der Bundesrepublik noch durch einen weitgehend aus der Nachkriegszeit und aus der Kriegserfahrung gewonnenen Konsens bestimmt war. Das preußische Staatsmodell zeigt, dass ein mit bester Einsicht begabtes Staatswesen nach seinem Selbstverständnis dem Bürger gegenüber objektiv und sachlich zu handeln vermag. Im demokratischen Staat, mit unterschiedlichen politischen Meinungen und Kräften, ist die Objektivität der staatlichen Administration und Justiz sehr viel schwieriger theoretisch zu begründen und praktisch durchzusetzen. Das preußische Staatsmodell vermag solche Probleme der deutschen Gegenwart sichtbar zu machen – vielleicht nicht einmal so sehr als Folge einer ganz ungewöhnlichen staatlichen oder staatstheoretischen Leistung Preußens, aber sicherlich deshalb, weil die Entwicklung der modernen Staatlichkeit in Deutschland sich eben weitgehend in Preußen vollzogen hat. Das allein ist Grund genug zur Auseinandersetzung mit diesem Staatsmodell.

Dietmar Willoweit, geb. 1936, war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Würzburg.

Zuerst erschienen in: Otto Büsch, Hrsg., Das Preussenbild in der Geschichte: Protokoll eines Symposions, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 50 : Forschungen zur preussischen Geschichte, Berlin New York: de Gruyter, 1981, S. 265 – 276. Weiteführende Anmerkungen sind der früheren Fassung der Argumentation zu entnehmen: Dietmar Willoweit, Preußische Vergangenheit und deutsche  Gegenwart. Überlegungen zum  Ursprung  und zur Aktualität der preußischen Autokratie, in: Jahrbuch  für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 27, Berlin 1978, S. 186-205. Zu den Texten aus Hegels Rechtsphilosophie vgl. Rolf K. Hocevar, Hegel und der preußische  Staat. Ein Kommentar zur Rechtsphilosophie von 1821. München 1973. Die Texte von Schubarth, Gans und Varnhagen von Ense finden sich bei Manfred Riedel (Hrsg.), Materialien  zu Hegels  Rechtsphilosophie. Bd. I, Frankfurt a. M. 1975.

Online seit: 2. Juni 2020

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