Restauration oder Neuanfang?

Andreas Pangritz

Stuttgarter Erklärung vom 19. Oktober 1945: Martin Niemöller, Wilhelm Niesel, Ratsvorsitzender Theophil Wurm, Hans Meiser, Heinrich Held, Hanns Lilje und Otto Dibelius (v.l)

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Ambivalenzen in der Theologie der Bekennenden Kirche von Barmen bis Darmstadt

Der folgende Text ist die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor auf der Tagung „Gedenkort des Versagens – ein Ort der Versöhnung?der Initiative „Christen brauchen keine Garnisonkirche“ und der Martin-Niemöller-Siftung am 31. Oktober 2015 in der Berliner Kirchengemeinde Alt-Pankow gehalten hat.

Ich bin gebeten worden, etwas zur Frage zu sagen: „Was wird aus den theologischen Lehren von Barmen und Darmstadt?“ Um auf diese Frage antworten zu können, wäre es zunächst nötig zu fragen, worin diese Lehren überhaupt bestehen. Und was meint überhaupt die Zusammenstellung von Barmen mit Darmstadt? Also: Was meint das „und“ zwischen Barmen und Darmstadt? Es wird hier eine Kontinuität suggeriert, die vielleicht doch nicht ohne eine gewisse Spannung behauptet werden kann. Es geht mir also darum, noch einmal einen Blick zurück zu werfen, bevor wir nach vorne blicken können.

Mit den Stichworten „Barmen“ und „Darmstadt“ wird auf Dokumente der Bekennenden Kirche angespielt: „Barmen“ steht für die „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“, mit deren Verabschiedung am 31. Mai 1934 auf der Bekenntnissynode von Barmen die Bekennende Kirche gegründet wurde.[1] Sie war maßgeblich von dem damals in Bonn lehrenden Schweizer Theologen Karl Barth formuliert worden. „Darmstadt“ steht für das Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zum politischen Weg unseres Volkes“,[2] das am 8. August 1947 auf der Sitzung des Bruderrats in Darmstadt verabschiedet wurde. Es ging auf einen Entwurf von Hans Joachim Iwand zurück, der von Martin Niemöller, Karl Barth, Hermann Diem und anderen überarbeitet worden war. Das Darmstädter Wort kann als eine der letzten öffentlichen Äußerungen der Bekennenden Kirche gelten, bevor der Bruderrat sich selbst auflöste. Ihr folgte nur noch ein „Wort zur Judenfrage“, das der Bruderrat am 8. April 1948 ebenfalls in Darmstadt verabschiedete.

Aber wer oder was war die Bekennende Kirche zwischen 1934 und 1947? Ein Hort des „Widerstands“ gegen den Nationalsozialismus, wie einige ihrer Repräsentanten sie im Nachhinein stilisiert haben? Wohl kaum; jedenfalls nicht so ungebrochen. Was tun wir also, wenn wir heute an das Erbe der Bekennenden Kirche erinnern? Ist dies möglich, ohne zugleich ihre Versäumnisse zu erwähnen? Fragen über Fragen. Und die Fragen verschärfen sich noch, wenn wir zwischen Barmen und Darmstadt noch eine Gestalt einfügen, die weder in Barmen noch in Darmstadt dabei war, aber am 21. März 1933, am „Tag von Potsdam“, die Rolle des protestantischen Matadors spielte: Otto Dibelius (1880-1967), seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark, nach 1945 selbsternannter Bischof von Berlin-Brandenburg und von 1949 bis 1961 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der bekennende Antisemit Dibelius schloss sich nach der Rückkehr von einem Intermezzo als Kurprediger in San Remo im Juli 1934 der Bekennenden Kirche an. Am 18./19. Oktober 1945 war er als Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland an der Verabschiedung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses beteiligt. Spätestens durch die Erwähnung dieser prägenden Gestalt des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert gerät die Bekennende Kirche ins Zwielicht. Berüchtigt ist die autobiographische Erinnerung von Dibelius aus dem Jahr 1961: „Wir haben 1945 da wieder angefangen, wo wir 1933 aufhören mußten.“ Denn: „Es mußte etwas Neues geschaffen werden. Und – dies Neue mußte irgendwie das Alte sein.“[3]

Wo aber hatte Dibelius 1933 aufgehört? Ich zitiere aus seiner „Wochenschau“, die jeweils auf der ersten Seite des Berliner evangelischen Sonntagsblatts veröffentlicht wurde. Da heißt es am 12. Februar 1933 im Blick auf Hitlers Machtübernahme: „Zum ersten Mal seit der Revolution ist eine Regierung gebildet worden, die von einem großen Teil der Bevölkerung mit Begeisterung begrüßt worden ist.“ Und Dibelius weiß: „Wer jetzt die Macht in die Hand bekommt, wird sie so leicht nicht wieder hergeben.“ Am 12. März 1933 kommentiert er den Reichstagsbrand: „Daß dieser Brand ein kommunistisches Attentat gewesen ist, ist klar erwiesen. […] Die Reichsregierung hat sofort die schärfsten Maßnahmen ergriffen. Sie hat nicht nur die kommunistische, sondern auch die sozialistische Presse verboten. […] Wir stehen als evangelische Christen gegenüber der kommunistischen Agitation in einer klaren, fest bestimmten Front.“ Dibelius hat demnach am Tag von Potsdam keineswegs nur von Amts wegen als Generalsuperintendent der Kurmark teilgenommen, sondern weil er der Nazi-Regierung innerlich zustimmte.

Diese Zustimmung schloss nicht nur den Nationalismus, den Antikommunismus, sondern auch den Antisemitismus ein. So heißt es in der „Wochenschau“ vom 9. April 1933 im Rückblick auf den „Boykott“ jüdischer Geschäfte: „Das Ausland hat auf die große Umwälzung in Deutschland mit gewohnter Unfreundlichkeit geantwortet. […] Das Judentum fühlt sich durch eine nationale Bewegung mit antisemitischem Einschlag begreiflicherweise bedroht. Und zwar entscheidend deshalb, weil das Judentum sich mit der Revolution von 1918 und mit der sozialistischen Herrschaft eng verbunden hatte. […] Die letzten fünfzehn Jahre haben in Deutschland den Einfluß des Judentums außerordentlich verstärkt. Die Zahl der jüdischen Richter, der jüdischen Politiker, der jüdischen Beamten in einflußreicher Stellung ist spürbar gewachsen. Dagegen wendet sich die Stimmung eines Volkes, das mit den Folgen der Revolution aufräumen will. Das Judentum fühlt sich bedroht. Und – es macht nun im Ausland Stimmung gegen das neue Deutschland. Was in Amerika, in England und in Frankreich über Greueltaten in Deutschland geredet und geschrieben worden ist, spottet jeder Beschreibung. […] Schließlich hat sich die Reichsregierung genötigt gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren – in der richtigen Erkenntnis, daß durch die internationalen Verbindungen des Judentums die Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich gefährlich wird.“ Wenn dies zu einer „Zurückdrängung des jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben Deutschlands“ führen werde, dann könne „dagegen […] niemand im Ernst etwas einwenden.“ Im Gegenteil: Dibelius empfiehlt der Regierung „eine langfristige Sperre der deutschen Ostgrenze gegen die jüdische Einwanderung“. Dann werde das Judentum in Deutschland zurückgehen: „Die Kinderzahl der jüdischen Familien ist klein. Der Prozeß des Aussterbens geht überraschend schnell vor sich.“

Ich habe Dibelius so ausführlich zitiert, weil sein Ruf in Berlin nach wie vor über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint. Als ich die letzten Sätze auf einer Tagung der Westberliner Evangelischen Akademie im Jahr 1983 vorlas, wurde mir aus dem Publikum vorgehalten, ich sei einer Propagandalüge der DDR-Regierung gegen die Evangelische Kirche auf den Leim gegangen. Tatsächlich war ich auf diese Sätze aber in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz bei Recherchen in evangelischen Gemeindeblättern des Jahres 1933 gestoßen. Soviel ich weiß, hat sich Dibelius nie von seinen skandalösen Äußerungen des Jahres 1933 distanziert.

Angesichts solcher antisemitischen Sätze, wie ich sie zitiert habe, fällt aber auch ein Schatten auf die Tradition der Bekennenden Kirche. Es muss ja gefragt werden, ob Dibelius mit seiner Einstellung eher ein Außenseiter war oder ob wir hier zu hören bekommen, was auch in der Bekennenden Kirche die Regel war. Jedenfalls kann es nicht um ein Heldengedenken im Blick auf Barmen und Darmstadt gehen. Vielmehr müssen Ambivalenzen und blinde Flecke in der Tradition der Bekennenden Kirche scharf beleuchtet werden. Ich habe meine Überlegungen unter den Titel „Restauration oder Neuanfang?“ gestellt, um damit an die Fragestellung zu erinnern, unter der die Erfahrung des evangelischen Kirchenkampfes in der Nachkriegszeit diskutiert worden ist.[4] Dabei will ich mich auf zwei Themenkomplexe konzentrieren: die Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat und die Verhältnisbestimmung von Kirche und Judentum.

Die Bekennende Kirche und der Staat

Die Barmer „Theologische Erklärung“ ist dafür gelobt worden, dass sie sich in ihrer Auffassung vom Staat von der traditionellen Staatsmetaphysik verabschiedet habe. Statt von der Obrigkeit zu sprechen und diese gar zur Schöpfungsordnung hochzustilisieren, wie es lutherischer Tradition entsprochen hätte, wird nüchtern von der „Aufgabe“ des Staates gesprochen, „für Recht und Frieden zu sorgen“. So entspreche es „göttlicher Anordnung“. Wenn zugleich die „falsche Lehre“ verworfen wird, „als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“ (Barmen 5), dann kann man darin eine Kritik an der gesellschaftlichen Neuordnung im Nazi-Staat hören. Jedenfalls hätte ein solches Verständnis gewiss der Auffassung Karl Barths, des Hauptverfassers der Erklärung, entsprochen – kaum jedoch dem der Mehrheit der Bekenner von Barmen.

Die Mehrheitsauffassung dürfte eher in den Formulierungen des Einbringungsvortrags von Hans Asmussen zur Sprache gekommen sein, der Wert auf die Feststellung legte: „Wir sind keine Rebellen.“[5] Der Protest der „Theologischen Erklärung“ richte sich keineswegs gegen den neuen Staat – wir protestieren „nicht als Volksglieder gegen die jüngste Geschichte des Volkes, nicht als Staatsbürger gegen den Staat, nicht als Untertanen gegen die Obrigkeit“.[6] Vielmehr wüssten sich die „Glieder der Bekenntnisfront im Gehorsam und in der Treue gegen Volk und Staat durch ein göttliches Gebot gehalten“.[7] Die Warnung vor der Ideologie des „totalen“ Staates deutet Asmussen gar in eine konditionierte Zustimmung zur gesellschaftlichen Neuordnung um: „,Totaler Staat’, das kann nur heißen: ein Staat, der sich bemüht, innerhalb der von Gott gesetzten Grenzen das gesamte Leben des Volkes zu umfassen.“[8] Der logische Widerspruch, dass eine Totalität, die Grenzen anerkennt, gar keine ist, scheint Asmussen nicht gestört zu haben.

Waren die Ambivalenzen im Staatsverständnis der „Theologischen Erklärung“ von Barmen Ausdruck einer obrigkeitlichen Orientierung der Bekennenden Kirche, die es verhinderte, politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten, so sah sich der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Krieg veranlasst, vor dem Wiederaufleben des Nationalismus unter dem Dach der Kirche zu warnen. Daher musste das Bruderratswort „Zum politischen Weg unseres Volkes“ im Sinne einer politischen Präzisierung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses selbstkritisch zur Umkehr „von allen falschen und bösen Wegen“ aufrufen, „auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind“ (Darmstadt 1). Als Irrwege benannt werden u. a. „der Traum einer besonderen deutschen Sendung […], als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne“; die Rechtfertigung des „schrankenlosen Gebrauchs der politischen Macht“, wodurch „unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt“ worden sei; die Begründung „unseres Staats nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung“, wodurch die Mitarbeit „im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker“ verleugnet worden sei (Darmstadt 2); die Verneinung „des Rechts zur Revolution“ bei gleichzeitiger Duldung und Bejahung „der Entwicklung zur absoluten Diktatur“ (Darmstadt 3).

Erst ganz zuletzt war dem Darmstädter Bruderratswort ein explizites Zitat aus der Barmer „Theologischen Erklärung“ hinzugefügt worden, um die theologische Kontinuität mit der Bekennenden Kirche zu unterstreichen: „Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: ‚Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen’ (Barmen 2).“ Aus dieser Erinnerung folgert das Darmstädter Wort u. a.: „[L]aßt Euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet Euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewußt, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient“ (Darmstadt 7).

All diese Worte und noch manche andere guten Sätze wie der Hinweis auf „den ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre“, der die Kirche daran hätte erinnern sollen, „die Sache der Armen und Entrechteten […] zur Sache der Christenheit zu machen“ (Darmstadt 5), sind damals kaum rezipiert worden. Schlimmer noch: Sie sind auf eine breite Ablehnungsfront gestoßen, so dass es für uns Theologiestudenten dreißig Jahre später eine Neuentdeckung war, als wir 1977 auf den weithin vergessenen Wortlaut des Darmstädter Wortes stießen. Der Kongress, den wir aus diesem Anlass in Darmstadt organisierten und an dem auch noch Veteranen der Bekennenden Kirche wie Martin Niemöller teilnahmen, war als eine Demonstration des Linksbarthianismus gegen die Machtentfaltung der institutionalisierten Kirche gedacht. Er geriet aber in den Schatten des „deutschen Herbstes“, der Eskalation des Terrorismus der RAF gegen das sog. „Schweinesystem“, auf die der bundesdeutsche Staatsapparat – sekundiert vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland („Nur ein starker Staat kann liberal sein“) – mit aller Gewalt reagierte, die ihm zur Verfügung stand. Nicht nur die Terroristen wurden verfolgt, sondern alles, was links zu sein schien, geriet unter den Verdacht, „Sympathisanten“ zu sein. Was sollte in dieser Situation eigentlich mit dem „Recht zur Revolution“ gemeint sein? Und was soll dies heute bedeuten angesichts von gescheiterten Staaten im Nahen Osten und anderswo in der Welt?

Die Bekennende Kirche und die Juden

Im Nachhinein hat Karl Barth bekannt, er empfinde es als „Schuld“, dass er die damals sog. „Judenfrage“ in der „Theologischen Erklärung“ von Barmen nicht „als entscheidend geltend gemacht“ habe. Er gab aber zu bedenken, dass „ein Text, in dem ich das getan hätte, […] bei der damaligen Geistesverfassung auch der ‚Bekenner‘ auf der Barmer Synode nicht „akzeptabel“ gewesen wäre. Dies entschuldige freilich nicht, dass er „in dieser Sache nicht wenigstens in aller Form gekämpft“ habe.[9] Angesichts dieses Defizits, des öffentlichen Schweigens der Barmer Theologischen Erklärung und der Bekennenden Kirche überhaupt zu Diskriminierung und Verfolgung der Juden im Nazi-Staat,[10] hat man von der fehlenden These gesprochen.[11] Barths Einschätzung, dass eine solche These nicht akzeptiert worden wäre, dürfte jedoch der Realität entsprechen.

Der Antisemitismus von Dibelius war in der Bekennenden Kirche kein Einzelfall. Hans Asmussen etwa schreibt im zweiten Band seiner Gottesdienstlehre 1936 als Hilfe zum sog. „Judensonntag“ (10. Sonntag nach Trinitatis): „Die Zeit des Judentums ist vergangen. Israel hat die große Stunde Gottes nicht erkannt. Darum ist es auch als politisches Gebilde untergegangen. Das Recht Israels auf den Gottesstaat ist nach Gottes Willen erloschen, seitdem es seinen Erlöser ans Kreuz geschlagen hat.“[12] Dass es sich in solchen Behauptungen nicht um reine Theologie, sondern um theologische Legitimation politischer Verfolgung handelte, macht der Berliner Missionsdirektor Siegfried Knak, ebenfalls ein prominentes Mitglied der Bekennenden Kirche, deutlich. Er versandte 1935, im Jahr der Nürnberger Rassegesetze, ein „Wort der Mission zur Rassenfrage“, in dem es heißt, das jüdische Volk stehe „unter einem besonderen Gericht“. Zu diesem Gericht gehöre es, „daß es unter den Völkern, unter die es zerstreut ist, so oft Verderben bringt“. Daher dürfe „der Staat […], wo es not ist, harte Maßnahmen nicht scheuen“. Das Judentum sei dem Christen „der Feind und der Schädling seines Volkes“.[13] Angesichts solcher Theologie kann eine ungebrochene Anknüpfung an die Tradition der Bekennenden Kirche heute nicht mehr in Frage kommen.

Zwar hat Helmut Gollwitzer betont, dass schon die erste Barmer These, wenn sie sich zu Jesus Christus bekennt, „wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist“, recht verstanden, ein Bekenntnis zu dem „Juden Jesus“ und damit zumindest indirekt eine Solidaritätserklärung mit den Juden enthalten habe.[14] Dies mag man aus heutiger Sicht so sagen. Es war den damaligen „Bekennern“ in ihrer überwiegenden Mehrheit aber nicht geläufig. Im Gegenteil: Sie konnten ein Bekenntnis zu Jesus Christus ohne weiteres mit dem Antisemitismus vereinbaren: Die Juden haben, wie Friedrich-Wilhelm Marquardt formuliert, „unser Christusverständnis bitter erleiden müssen“.[15] Und mit Marquardt forderte Eberhard Bethge „die Problematisierung der Judenmission“ und „Korrekturen an der Christologie“, eben auch der von Barmen, die ihren „antijüdischen Mißbrauch“ überwinden sollten.[16]

Hatte Barmen zur Diskriminierung und Verfolgung der Juden im Nazi-Staat geschwiegen, so gilt dasselbe vom Darmstädter Wort „Zum politischen Weg unseres Volkes“. Offenbar hat der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland diese Lücke als unerträglich empfunden und sich daher dazu durchgerungen, am 8. April 1948 auch noch ein „Wort zur Judenfrage“ zu verabschieden. Dort heißt es zunächst hellsichtig: „Jetzt, wo uns vergolten wird, was wir an den Juden verschuldet haben, wächst die Gefahr, daß wir uns vor dem Gericht Gottes in eine neuen Antisemitismus flüchten und so noch einmal das alte Unheil heraufbeschwören.“ Es wird betont, „daß Jesus von Nazareth ein Jude ist, ein Glied des durch Gottes Erwählung geschaffenen Volkes Israel“. Dies sei für die Lehre der Kirche nicht „gleichgültig“. Die Folgerungen, die der Bruderrat aus dieser Erkenntnis zieht, sind dann jedoch höchst ambivalent, indem sie die Tradition des theologischen Antijudaismus rezipieren. Da heißt es dann bedenkenlos: „Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verworfen. […] Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden, übergegangen. […] Daß Gott nicht mit sich spotten läßt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“[17] Mit einer solchen Theologie hatte die Bekennende Kirche sich selbst wehrlos gemacht gegenüber dem modernen Antisemitismus, wenn man ihn nicht gar – wie Dibelius – als Fortsetzung des Kampfes gegen das Judentum mit anderen Mitteln begrüßte.

Fazit

Im Rückblick auf die Ambivalenzen der Theologie der Bekennenden Kirche kann ein Blick nach vorn doch nur bedeuten, sich mit den nationalistischen, obrigkeitlichen und antijüdischen Traditionen der Kirche radikaler auseinanderzusetzen, als dies in Barmen und Darmstadt geschehen ist, statt mit der Wiedererrichtung eines Symbols wie der Potsdamer Garnisonkirche den Versuch zu unternehmen, wie Dibelius dort weiterzumachen, wo die Kirche 1933 geendet hatte. Ein Schuldbekenntnis ohne Konsequenzen ist Heuchelei. Der Wiederaufbau eines Symbols des Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus wäre ein Ausdruck der organisierten Unbußfertigkeit.

Andreas Pangritz ist evangelischer Theologe, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Lernorts Garnisonkirche und war von 2003 bis zu seiner Emeritierung 2019 Professor für Systematische Theologie an der Universität Bonn, wo er auch das Ökumenische Institut leitete. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theologie Dietrich Bonhoeffers, Theologie nach Auschwitz, die Theologie des christlich-jüdischen Verhältnisses sowie das Verhältnis von „Dialektischer Theologie“ und „Kritischer Theorie“.


[1] Vgl. Martin Heimbucher/Rudolf  Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn  (7., überarbeitete und erweiterte Aufl.) 2009.
[2] Vgl. Hartmut Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes (= Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Beiheft zu H. 7/8, 1977). Vgl. auch Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz, nach dem Bekenntnis des „Darmstädter Wortes“ von 1947, Köln 1987.
[3] Otto Dibelius, Rundfunkinterview  und Autobiographie (Ein Christ ist immer im Dienst, Stuttgart 1961), zit. nach Gert Wendelborn, Charta der Neuorientierung. Die Rezeption des „Darmstädter Wortes“ heute, Berlin 1977, 35.
[4] Vgl. Hermann Diem, Restauration oder Neuanfang in der Evangelischen Kirche?, Stuttgart 1946.
[5] Hans Asmussen, Vortrag über die Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche, in: Heimbucher/Weth  (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung, 47.
[6] H. Asmussen, a.a.O., 53
[7] H. Asmussen, a.a.O., 59.
[8] H. Asmussen, a.a.O., 60
[9] K. Barth, Brief an Eberhard Bethge vom 22. 5. 1967, in: Evangelische Theologie 28 (1968), 555f.
[10] Vgl. Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, 2., bearbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1993.
[11] Vgl. z. B. Eberhard Bethge, Barmen und die Juden – eine nicht geschriebene These?, in: Regina Claussen/Siegfried  Schwarz (Hg.), Vom Widerstand lernen. Von der Bekennenden Kirche bis zum 20. Juli 1944, Bonn 1986, 147–166
[12] Hans Asmussen, Gottesdienstlehre, Bd. 2: Das Kirchenjahr, München 1936, 98.
[13] Siegfried Knak, Ein Wort der Mission zur Rassenfrage, in: Berliner Missionsbriefe 9 (1935), 158f.
[14] Helmut Gollwitzer, Das eine Wort für alle. Zur 1. und 6. These der Theologischen Erklärung von Barmen, in: ders., … daß Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik, hg. v. Andreas Pangritz, München 1988, Bd. 1, 30.
[15] Friedrich-Wilhelm  Marquardt, Was haltet ihr von Christus? Jesus zwischen Christen und Juden, in: Freiburger Rundbrief. Beiträge zur christlich-jüdischen  Begegnung 34 (1982), 48.
[16] E. Bethge, Christologisches Bekenntnis und Antijudaismus. Zum Defizit von Barmen I, in: ders., Bekennen und Widerstehen. Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984, 132f.
[17] Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wort zur Judenfrage vom 8. April 1948, in: Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum, Bd. I: Dokumente von 1945–1985, Paderborn u. a. (3. Aufl.) 2001, 541f.

Online seit: 19. Mai 2021

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